Filmgespräch

Regisseurin Agnieszka Holland über FRANZ K.: "Er sollte ein bisschen was von einem Punk haben, und nicht nur ernst und traurig sein."

Agnieszka Holland (*1948 in Warschau) gehört zu den bekanntesten polnischen Regisseurinnen der Gegenwart. Zu ihren Filmen gehören HITLERJUNGE SALOMON (1990), KLANG DER STILLE (2006) und GREEN BORDER (2020). Seit DER GEHEIME GARTEN (1993) arbeitet sie auch in Hollywood und hat unter anderem bei den Serien Treme, House of Cards, The Wire und in der von ihr geschriebenen Miniserie Rosemary's Baby Regie geführt.

Pamela Jahn: Frau Holland, als Sie im Alter von 14 Jahren zum ersten Mal mit Kafkas Literatur in Berührung kamen, wollten Sie damals selbst Schriftstellerin werden?

Agnieszka Holland: Nein, Malerin. Aber ich war ein sehr belesenes Kind. Ich habe schon früh in meiner Jugend die großen Klassiker gelesen. Kafka entdeckte ich ungefähr zur gleichen Zeit wie die Werke von Thomas Mann. Davor hatte ich bereits einen Roman von Dostojewski gelesen. Meine intensivste Lesezeit hatte ich in meiner Jugend zwischen 12 und 25 Jahren.

Was hat sich danach verändert?

Als Filmemacherin wurde ich immer dümmer, weil mir klar wurde, dass ein guter Regisseur oder eine gute Regisseurin nicht unbedingt intellektuell hochgebildet sein muss. Man muss andere Fähigkeiten entwickeln. Es ist zum Teil ein eher technisches Handwerk.

Was hat Sie letztlich an Kafkas Sprache und Schreibstil besonders fasziniert, im Gegensatz zu Thomas Mann oder Dostojewski?

Thomas Mann hat mich auch angesprochen, ich habe alles von ihm gelesen, nicht nur die langen Romane, sondern auch die Kurzgeschichten, die Briefe und die Tagebücher. Aber irgendwann wurde mir klar, dass ich ihn als Mann beziehungsweise als Mensch nicht mochte. Ich erkannte, dass er ein ziemlich unangenehmer, egoistischer und pompöser Typ war, und deshalb verlor ich auch das Interesse an seiner Literatur. Mit Kafka war es anderes. Er bot mir eine neue Sichtweise auf die Welt. Seine Sprache war nicht beschreibend und ausladend. Er erzählte auch keine realistischen Geschichten über die menschliche Psychologie oder die Moral. Er half mir, die unlösbare Komplexität der Welt zu verstehen. Und ich fand ihn immer sehr relevant und in gewisser Weise zeitlos.

Was ist das Charakteristische an seiner Vision?

Ich bin im kommunistischen Polen aufgewachsen und habe anschließend in der kommunistischen Tschechoslowakei studiert. Auf der ersten Ebene war die dystopische Qualität insbesondere seiner Romane damals sehr aktuell und entsprach dem Gefühl, das wir gegenüber der Realität hatten. Aber auf der zweiten Ebene war es etwas, das ich, wenn ich Kafka lese, auch heute noch sehr stark spüre: Dass man, immer wenn man glaubt, den Schlüssel zu seinem Werk gefunden zu haben, er am Ende doch nicht passt. Man glaubt für den Moment, die Botschaft oder die Bedeutung zu verstehen, bis man einsehen muss, dass man nichts verstanden hat, weil es einfach unendlich viele Interpretationsebenen gibt.

Inwieweit haben Sie versucht, seine Art zu schreiben auf Ihren Film zu übertragen?

Ich musste in Franz K. stilistisch und narrativ meinen eigenen Zugang zu Kafka finden, der - für mich - mit seinem Schreiben und auch mit seiner Persönlichkeit übereinstimmt. Ich wollte diese Verspieltheit zum Ausdruck bringen, die im Gegensatz zu dem allgemeinen Klischee von Kafka als einem düsteren, finsteren Typ steht, was meiner Meinung nach nicht stimmt. Er sollte ein bisschen was von einem Punk haben, und nicht nur ernst und traurig sein. Ich mag ich es nicht, wenn Adaptionen oder Interpretationen seiner Werke ihn stets als eine Art makabres Insekt darstellen, das sich im Dunkeln versteckt, denn so war er nicht.

Worauf haben Sie in der Bildsprache wert gelegt?

Eine weitere Überlegung war, die Struktur offen zu halten, ähnlich wie in der Quantenphysik, wo Zeit und Raum nicht offensichtlich und linear sind. Auf eine ähnliche Weise bezieht sich auch Kafkas Denken immer auf etwas, das jenseits des Verstandes und jenseits des Herzens liegt. Sein Intellekt scheint völlig losgelöst von der normalen Psychologie. Deshalb gibt es in dem Film realistische Szenen, die etwa seine komplizierte Beziehung zum Vater beschreiben, wie wir sie kennen, aber seine Empfindsamkeit und seine Gefühle sind für uns nie ganz zugänglich. Sie bleiben ein Mysterium.

Letztes Jahr, zum 100. Todestag, gab es bereits zahlreiche Ansätze, Kafkas Leben und Werk neu zu interpretieren. Haben Sie Bedenken, dass Ihr Film in der Hinsicht etwas zu spät kommt?

Ich hatte nicht das Gefühl, einen Film passend zum Jubiläum zu machen. Ich habe nicht im Kalender nachgeschaut. Lange Zeit wollte ich den Film sogar „Auf der Suche nach Franz“ nennen, weil mich die Person mehr interessierte als Kafka, der Schriftsteller. Vielleicht sind die Leute jetzt ein wenig gelangweilt, wenn sie seinen Namen hören. Aber ich hoffe nicht.

1981 haben Sie Kafkas „Der Prozess“ für das polnische Fernsehen adaptiert. Was haben Sie bei der Arbeit an dem Projekt gelernt, das Ihnen jetzt bei FRANZ K. geholfen hat?

Ich habe den Film damals zusammen mit meinem Ex-Mann inszeniert, und ich finde, wir haben ziemlich gute Arbeit geleistet. Vielleicht war es sogar eine der gelungensten Interpretationen von „Der Prozess“, die ich je gesehen habe. Für mich persönlich war es ein unglaubliches intellektuelles Abenteuer, den Roman zuerst zu dekonstruieren und dann wieder zu rekonstruieren. Ich empfand es als eine sehr dynamische Versuchsanordnung. Wie gesagt, ich denke bis heute, dass es keine hinreichende Interpretation von seinem Werk gibt, die man ad acta legen könnte. Bei Kafka ist nichts jemals endgültig.

Er war ein Mann der Anfänge, hatte aber immer Schwierigkeiten, Dinge zu Ende zu bringen. Können Sie das persönlich mit Blick auf Ihre eigene Arbeitsweise nachvollziehen?

Die Enden in meinen Filmen sind meist auch offen. Nur sehr selten sind sie absolut. Zumindest für mich sind die meisten meiner Filme auch nicht fertig. Dagegen sind Kafkas Werke viel mehr in sich geschlossen.

Was machte ihn zu Ihrem Seelenverwandten, wie Sie es gerne formulieren?

Die Tatsache, dass er in sich einen großen Widerspruch verkörperte. Deshalb empfinde ich diese Zärtlichkeit ihm gegenüber. Seit meiner Jugend wollte ich ihn immer irgendwie beschützen. Ich hatte den Eindruck, dass er wie ein kleiner Bruder ist, um den ich mich kümmern muss. Aber warum? Einerseits war er in seinem Denken und Schreiben völlig revolutionär und unkonventionell, andererseits wollte er unbedingt dazugehören. Er war kein Rebell, kein Revoluzzer. Er hatte einen normalen Job und bemühte sich ernsthaft, ein konventionelles bürgerliches Leben zu führen. Es hat jedoch nicht funktioniert. Aber er war niemand wie zum Beispiel Arthur Rimbaud, der französische Dichter, über den ich 1995 einen Film gedreht habe. Rimbaud war ein echter Aufrührer. Er wollte der Welt beweisen, dass er anders ist als alle anderen. Er kämpfte gegen das Establishment, von dem Kafka so verzweifelt akzeptiert werden wollte. Nur war das unmöglich.

Trotz der Verspieltheit, die Sie zuvor erwähnt haben, gibt es im Film auch eine konfrontative Folterszene aus Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“. Warum war Ihnen diese Szene wichtig?

Ich fand, dass sie sehr realistisch, sogar drastisch dargestellt werden musste, um zu zeigen, wie die Menschen damals seine Texte wahrgenommen haben. Sie waren schockiert, und ich wollte dieses Gefühl beim Kinopublikum wieder hervorrufen. Als die Erzählung erstmals veröffentlicht wurde, hat man sie nicht wirklich verstanden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie als ein Beispiel für seine prophetischen Fähigkeiten wiederentdeckt. Zu dieser Zeit lasen auch viele existentialistische Schriftsteller und Philosophen wie Albert Camus oder Jean-Paul Sartre seine Werke, weil Kafka nicht nur das Gefühl der Entfremdung aufgrund der industriellen, kapitalistischen, entmenschlichenden Gesellschaft einfing, sondern auch die totale Entmenschlichung und Verachtung, die in „In der Strafkolonie“ so anschaulich zum Ausdruck kommt. Ich wollte diesen Aspekt aufgreifen, weil wir heute erneut in eine sehr ähnliche Zeit eintreten, in der die Gewalt und der Hass unter den Menschen wieder zunimmt. Es ist eine Warnung.

Sehen Sie Ihren Film GREEN BORDER in ähnlicher Weise als eine Mahnung oder einen Weckruf?

Ich analysiere meine Arbeit nicht auf diese Weise, weil es gefährlich ist. Ich kann nur dem Impuls folgen, den ich gerade empfinde, und dem nachgehen, was für mich und hoffentlich auch für andere in diesem Augenblick wichtig erscheint. Ich werde also den Teufel tun und mich mit Kafka vergleichen. Er war ein Genie. Ich bin es nicht. Ich versuche lediglich, eine ehrliche Filmemacherin zu sein, die sensibel für die Realität ist und sich den Herausforderungen der Moderne stellt.

Ist es heute manchmal sinnvoller, auf klassische Werke und Schriftsteller:innen zurückzugreifen, wenn es darum geht, die Gegenwart zu verstehen?

Das ist immer die Frage. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass George Orwell total angesagt war, als ich in kommunistischen Ländern lebte. Dann, nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, verschwanden seine Werke einfach von der Bildfläche – bis Donald Trump zum ersten Mal gewählt wurde. Als ich mir 2016 die Bestsellerliste bei Amazon ansah, war Orwell über Nacht wieder auf Platz eins. Und „The Plot Against America“ von Philip Roth war auf Platz zwei, danach kam Kafka auf Platz drei oder vier. Plötzlich erweckte die sich verändernde politische oder ideologische Lage einige Klassiker zu neuem Leben. Es ist also wichtig, die Klassiker nicht nur beim Namen zu kennen, sondern sie auch zu lesen, aber das bedeutet nicht, dass man die zeitgenössische Literatur komplett vergessen sollte, auch wenn die Lebensdauer dieser Bücher meist sehr kurz ist.

Sehen Sie in diesem Sinne eine Parallele zum Kino?

Ja, mit Filmen ist es ein bisschen dasselbe. Aber wissen Sie, was wirklich gefährlich ist? Dass es heutzutage immer weniger Menschen gibt, die ihre Autorität und Sensibilität einsetzen, um wichtige und besondere Werke ins Rampenlicht zu rücken, die manchmal vielleicht nicht leicht zu verkaufen, aber dennoch essenziell sind. Früher kam den Festivalleitern und den Verleihern diese Funktion zu, ähnlich wie den guten alten Redakteuren. Aber jetzt gibt es all diese digitalen Plattformen und Streamingdienste. Es sind Algorithmen, die entscheiden, was wie lesen oder sehen sollen. Diese Entwicklung macht es sehr schwierig, neue Klassiker zu schaffen, weil alles nur noch von künstlicher Intelligenz gesteuert wird, die keine Seele, kein Herz und keinen Verstand besitzt.

Was glauben Sie, hätte Franz Kafka von der Welt gehalten, in der wir heute leben?

Er hätte festgestellt, dass sie seiner Intuition entspricht. Er war in der Hinsicht ein Prophet. Er hat die Dinge vorausgesehen, nicht nur in der Gesellschaft, sondern ebenso in der Technologie. Seine Faszination fürs Kino ist nur ein Beispiel dafür. Ich denke auch, dass er den sozialen Medien und dem Trend, über Bilder und Texte zu kommunizieren, offen gegenübergestanden hätte. Immerhin war er selbst jemand, der persönliche Begegnungen scheute und lieber Briefe und Tagebücher schrieb, als direkt mit Menschen zu sprechen.

Haben Sie jemals selbst Tagebuch geschrieben?

Nicht ernsthaft. Als Teenager habe ich eine Art imaginäres Tagebuch geführt, in dem ich eher Ereignisse erfunden habe als die Wirklichkeit zu beschreiben. Aber später war ich immer zu beschäftigt oder abgelenkt - zumindest habe mir das eingeredet, was sehr schade ist. Mein Mentor und Freund Andre Vidal, zum Beispiel, hat sein ganzes Leben lang eine Art loses Tagebuch geführt. Er hatte ein Notizbuch, in dem er die Dinge festhielt, die ihm und um ihn herum passierten. Darin lässt sich viel Wahres finden, nicht nur über seine Persönlichkeit, sondern auch über die damalige Zeit. Es ist ein wichtiges Buch, das schon vor Jahren veröffentlicht wurde.

Wäre Franz Kafka heute verärgert, dass Max Brod seine Manuskripte nicht, wie er es wollte, allesamt verbrannt hat?

Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich wollte, dass sie verbrannt werden. Ich würde gerne glauben, dass er am Ende seines Lebens große Angst hatte und verwirrt war. Und vielleicht hoffte er, dass sein Freund es sowieso nicht tun würde, deshalb gab er sie ihm. Wohlgemerkt, Dora Diamant hat einen Teil der Schriften verbrannt, wie er es ihr aufgetragen hatte. Leider. Aber Max Brod war zum Glück hartnäckig - und weitsichtig.

Relevante Filme

Franz K.

Ein kaleidoskopisches Biopic.

Läuft ab morgen

Neueste Beiträge