Susanne Gietl: Nach DIE SAAT haben Sie sich den Bestseller „22 Bahnen“ ausgesucht. Wie sind Sie mit dem Erwartungsdruck der Lesenden umgegangen?
Mia Maariel Meyer: Als wir mit dem Film begonnen haben, hatte ich das Gefühl, 500.000 Leserinnen auf meiner Schulter sitzen zu haben – alle mit ihrem ganz eigenen Zugang zu Tildas Geschichte. Genau darin liegt auch die Schönheit der Literatur. Meine Verbindung zu der Geschichte war von Anfang an sehr stark. Mein Ziel war es, eine wahrhaftige, lebendige Erzählung zu schaffen, die den Zuschauer berührt und ihm nah geht. Dass nicht alle Leserinnen ihre 22 BAHNEN im Film wiederfinden werden, ist klar. Der Film versteht sich als Interpretation – ein Blick auf die Geschichte, von dem man hoffentlich auch dann etwas mitnehmen kann, wenn man den Roman zuvor intensiv gelesen hat.
Es ist erneut ein Familienthema. Was reizt Sie so daran?
Familie ist so ein unerschöpfliches Thema, weil in ihr unser Ursprung liegt. Bei „22 Bahnen“ wird von einer sehr besonderen Familienkonstellation erzählt. Die ältere Schwester Tilda wird zur Mutterfigur für ihre jüngere Schwester Ida, sehnt sich aber gleichzeitig nach ihrem eigenen Leben. Sie muss lernen, egoistisch zu werden. Es ist die Liebesgeschichte zweier Schwestern und ihrer kranken Mutter Andrea, gefühlvoll verwoben mit der Geschichte über den Umgang mit Alkoholismus bei Frauen.
Tilda hält sich an Mathematik fest, weil Zahlen berechenbar sind. Wie würden Sie Tilda beschreiben?
Tilda ist eine moderne, vielschichtige Frau. Sie vereint Intelligenz und Klarheit mit kämpferischem Geist und tiefer Empathie. Unprätentiös und pragmatisch hat sie gelernt, die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen. Zugleich spürt man in ihr eine große Sehnsucht, einen unbändigen Drang nach Freiheit. Gerade in ihrem Umgang mit Ida und Andrea zeigt sie sich für mich als moderne Heldin – eine, der bislang zu wenig Beachtung geschenkt wird.
Als die Mutter zu Tilda und Ida sagt: „Ich hab‘s ja die ganzen Jahre allein geschafft“, entgegnet ihr Ida: „Tilda hat das allein geschafft.“ Das ist schon mehr als kindliche Wahrheit. Was zeichnet das Zusammenspiel von Zoë Baier (Ida), Luna Wedler (Tilda) und Laura Tonke (Andrea) aus?
Laura Tonke stand für mich schon beim Lesen fest – ebenso für die Produzenten. Umso erleichterter war ich, dass sie diese schwierige, komplexe Rolle angenommen und so herausragend verkörpert hat. Zusammen mit Zoë und Luna, die wie Laura herausragende Schauspielerinnen sind, entstand sofort eine starke Verbindung. Luna ist eine hochsensible, mutige und präzise Schauspielerin, die den feinen Grat zwischen einer selbstaufgebenden, mütterlichen Figur und einer jungen Frau, die sich freischwimmen will, brillant umgesetzt hat. Als Familienkonstrukt haben sie unglaublich authentisch funktioniert. Alle drei sind mutig und klug, haben ihre Figuren tief gespürt und bemerkenswerte Entscheidungen getroffen. Ich bin sehr dankbar für das große Glück, dass wir sie gefunden haben – und dass ich mit ihnen arbeiten durfte.
Auch Viktor, verkörpert von Jannis Niewöhner, schwimmt wie Tilda täglich 22 Bahnen. Er ist plötzlich ein stiller Teil von Tildas Welt.
Viktor tritt mit scheinbarer Zufälligkeit in Tildas Leben, wird jedoch rasch zu einer wichtigen Bezugsperson. Er ist kein Ritter im schwarzen SUV, sondern ein Mensch, der sich mit Tilda über ihren gemeinsamen großen Schmerz verbindet. Zunächst sind es Neugier und gegenseitige Anziehung, die sie zueinander treiben; doch mehr und mehr wird deutlich, dass ihre Seelen zusammengehören. In „Windstärke 17“ sagt Ida über die erste Begegnung von Viktor und Tilda, sie habe von Anfang an das Gefühl gehabt, bei etwas Großem dabei zu sein. Und so ist es: groß, überwältigend, lebensverändernd – aber eben nicht klassisch. Es ist keine simple Girl-meets-Boy-Geschichte, sondern etwas Tieferes. Jannis hat seiner Figur mit minimalen Mitteln eine enorme Tiefe verliehen.