Filmgespräch

Regisseurin Mia Maariel Meyer über 22 BAHNEN: "Laura Tonke stand für mich schon beim Lesen fest ."

Der Debütroman der Rostocker Autorin „22 Bahnen“ erschien 2023 und wurde, wie dessen Fortsetzung „Windstärke 17“ zum Verkaufserfolg. Die Verfilmung der beiden Romane übernahm Regisseurin Mia Maariel Meyer, die zuvor die Sozialdramen TREPPE AUFWÄRTS über einen Automatenspieler und dessen Sohn und DIE SAAT über eine Familie in Finanznot gedreht hat.

Susanne Gietl: Nach DIE SAAT haben Sie sich den Bestseller „22 Bahnen“ ausgesucht. Wie sind Sie mit dem Erwartungsdruck der Lesenden umgegangen?

Mia Maariel Meyer: Als wir mit dem Film begonnen haben, hatte ich das Gefühl, 500.000 Leserinnen auf meiner Schulter sitzen zu haben – alle mit ihrem ganz eigenen Zugang zu Tildas Geschichte. Genau darin liegt auch die Schönheit der Literatur. Meine Verbindung zu der Geschichte war von Anfang an sehr stark. Mein Ziel war es, eine wahrhaftige, lebendige Erzählung zu schaffen, die den Zuschauer berührt und ihm nah geht. Dass nicht alle Leserinnen ihre 22 BAHNEN im Film wiederfinden werden, ist klar. Der Film versteht sich als Interpretation – ein Blick auf die Geschichte, von dem man hoffentlich auch dann etwas mitnehmen kann, wenn man den Roman zuvor intensiv gelesen hat.

Es ist erneut ein Familienthema. Was reizt Sie so daran?

Familie ist so ein unerschöpfliches Thema, weil in ihr unser Ursprung liegt. Bei „22 Bahnen“ wird von einer sehr besonderen Familienkonstellation erzählt. Die ältere Schwester Tilda wird zur Mutterfigur für ihre jüngere Schwester Ida, sehnt sich aber gleichzeitig nach ihrem eigenen Leben. Sie muss lernen, egoistisch zu werden. Es ist die Liebesgeschichte zweier Schwestern und ihrer kranken Mutter Andrea, gefühlvoll verwoben mit der Geschichte über den Umgang mit Alkoholismus bei Frauen.

Tilda hält sich an Mathematik fest, weil Zahlen berechenbar sind. Wie würden Sie Tilda beschreiben?

Tilda ist eine moderne, vielschichtige Frau. Sie vereint Intelligenz und Klarheit mit kämpferischem Geist und tiefer Empathie. Unprätentiös und pragmatisch hat sie gelernt, die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen. Zugleich spürt man in ihr eine große Sehnsucht, einen unbändigen Drang nach Freiheit. Gerade in ihrem Umgang mit Ida und Andrea zeigt sie sich für mich als moderne Heldin – eine, der bislang zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Als die Mutter zu Tilda und Ida sagt: „Ich hab‘s ja die ganzen Jahre allein geschafft“, entgegnet ihr Ida: „Tilda hat das allein geschafft.“ Das ist schon mehr als kindliche Wahrheit. Was zeichnet das Zusammenspiel von Zoë Baier (Ida), Luna Wedler (Tilda) und Laura Tonke (Andrea) aus?

Laura Tonke stand für mich schon beim Lesen fest – ebenso für die Produzenten. Umso erleichterter war ich, dass sie diese schwierige, komplexe Rolle angenommen und so herausragend verkörpert hat. Zusammen mit Zoë und Luna, die wie Laura herausragende Schauspielerinnen sind, entstand sofort eine starke Verbindung. Luna ist eine hochsensible, mutige und präzise Schauspielerin, die den feinen Grat zwischen einer selbstaufgebenden, mütterlichen Figur und einer jungen Frau, die sich freischwimmen will, brillant umgesetzt hat. Als Familienkonstrukt haben sie unglaublich authentisch funktioniert. Alle drei sind mutig und klug, haben ihre Figuren tief gespürt und bemerkenswerte Entscheidungen getroffen. Ich bin sehr dankbar für das große Glück, dass wir sie gefunden haben – und dass ich mit ihnen arbeiten durfte.

Auch Viktor, verkörpert von Jannis Niewöhner, schwimmt wie Tilda täglich 22 Bahnen. Er ist plötzlich ein stiller Teil von Tildas Welt.

Viktor tritt mit scheinbarer Zufälligkeit in Tildas Leben, wird jedoch rasch zu einer wichtigen Bezugsperson. Er ist kein Ritter im schwarzen SUV, sondern ein Mensch, der sich mit Tilda über ihren gemeinsamen großen Schmerz verbindet. Zunächst sind es Neugier und gegenseitige Anziehung, die sie zueinander treiben; doch mehr und mehr wird deutlich, dass ihre Seelen zusammengehören. In „Windstärke 17“ sagt Ida über die erste Begegnung von Viktor und Tilda, sie habe von Anfang an das Gefühl gehabt, bei etwas Großem dabei zu sein. Und so ist es: groß, überwältigend, lebensverändernd – aber eben nicht klassisch. Es ist keine simple Girl-meets-Boy-Geschichte, sondern etwas Tieferes. Jannis hat seiner Figur mit minimalen Mitteln eine enorme Tiefe verliehen.

Wenn man versucht, 22 Bahnen zu schwimmen, dann ist das schon sehr viel. Haben Sie auch versucht, auf diese Weise in Tildas Realität einzutauchen?

Ja! Ich bin keine gute Kraulerin, bin aber mit Ach und Krach irgendwie 22 Bahnen geschwommen. Es hat mir sehr geholfen, um zu verstehen, was das Wasser für Tilda bedeutet. Für die meisten Menschen ist es Sport, Erholung, Entlastung, Regeneration. Für Tilda ist es so viel mehr. Es ist der einzige Ort, der ihr gehört, der frei ist. Das zu begreifen ist tragisch. Das Wasser ist wie eine Umarmung für Tilda. Es ist ihre Form der emotionalen Regeneration von all dem Mist in ihrem Leben.

Was war vor allem bei den Wasser- und Unterwasseraufnahmen von Kameramann Tim Kuhn wichtig?

Gemeinsam mit Tim Kuhn habe ich intensiv am visuellen Konzept gearbeitet. Unsere zentrale Frage war: Wie lässt sich Tildas Safe Space für den Zuschauer spürbar machen? In jeder Einstellung sollte deutlich werden, welche Bedeutung das Wasser für sie hat. Wir wollten, dass der Film zu einer physischen Erfahrung wird – dass der Zuschauer Tildas Nähe spürt und wahrnimmt, was sie empfindet. Besonders bei den Wasseraufnahmen war uns wichtig, dass trotz der technischen Herausforderungen die Technik unsichtbar bleibt und allein das Gefühl trägt. Das Sounddesign hat diesen besonderen Ort zusätzlich lebendig werden lassen.

**Auch die Musik gibt dem Ganzen einen anderen Ton … **

Die Musik ist die Seele des Films. Ich hatte eine sehr lange Playlist, die in der Vorbereitung immer länger wurde. Mir war von Anfang an klar, dass dieser Film nicht leise ist. Die Zusammenarbeit mit Dascha Dauenhauer war großartig. Dascha komponiert sehr emotional, innovativ und außergewöhnlich. Sie hat ganz viele Instrumente reingebracht, die im ersten Moment ein bisschen disruptiv erscheinen. Zum Beispiel ein verfremdetes Saxofon, als die beiden Schwestern auf einem Feld rennen und Befreiungsschreie ausstoßen. Es ist ein positiver, lebensbejahender Moment, der durch das Saxofon noch tiefer ins Herz geht. Ein anderes Beispiel ist der Moment, nachdem Tilda von ihrem Professor ein Angebot bekommen hat und sie im Bus nach Hause sitzt. Dort hört man einen ganz besonderen Unterton, der fast wie ein Schreien klingt. Er symbolisiert in diesem Moment die Aufruhr in Tildas Gefühlswelt.

Die Mutter ist alkoholkrank. Tilda merkt ihr gegenüber an: „Es gibt einen Unterschied zwischen sich um ein Kind zu sorgen oder sich um seine Mutter zu sorgen.“ Wie sind Sie dem Thema begegnet, ohne dass es zu plakativ wirkt?

Ich wollte vor allem verstehen, was Alkoholismus für Familien bedeutet, und habe mit Betroffenen gesprochen, deren Leben durch diese Krankheit zerrüttet wurde. Das war für mich die wichtigste Referenz. Laura und mir war es ein großes Anliegen, diesem Thema ehrlich und ungeschönt zu begegnen. Gleichzeitig war mir wichtig, Andrea nicht als Klischee zu zeichnen, sondern als Frau mit großem Potenzial – mit Humor und einer weichen, liebenswürdigen Seite, die zugleich von dieser schweren Krankheit gezeichnet ist. Laura ist eine feine, präzise und kreative Schauspielerin. Sie hat Andrea nahbar, durchlässig und wahrhaftig verkörpert.

Was haben Sie über Alkoholismus gelernt?

Alkoholismus ist eine Familienkrankheit – er betrifft nicht nur die einzelne Person. Schon sehr junge Kinder entwickeln Überlebensmechanismen, weil ‚Papa eben wieder so einen Tag hat‘. Das bricht einem das Herz. Ich bin sensibler für dieses Thema geworden - insbesondere, wenn es um Frauen geht. Wir müssen als Gesellschaft darauf achten, Menschen wie Andrea wieder in unsere Mitte zu nehmen und uns um sie zu kümmern. Andrea wurde vergessen. Am Ende müssen Ida und Tilda die Folgen ausbaden.

Sie arbeiten bereits am Drehbuch zur Verfilmung von Caroline Wahls Nachfolgeroman „Windstärke 17“, in dem eine wütende Ida eine große Rolle spielt. Wie haben Sie sich damit auseinandergesetzt?

Wut ist ein wichtiger Ausdruck menschlicher Erfahrung – eine Kraft, die oft gefürchtet wird, aber Räume für Veränderung öffnen kann. Oft existiert das Bild der „wütenden Frau“ als etwas Abstoßendes, aber warum eigentlich? Ida darf wütend sein. Sie hat zehn Jahre allein mit einer alkoholkranken Mutter gelebt und ihre Abstürze miterlebt, während ihre Schwester eine eigene Familie aufgebaut hat. Es war legitim und richtig, dass Tilda gegangen ist, doch ihre Entscheidung hatte einen Preis – und genau davon erzählt WINDSTÄRKE 17. Idas Wut ist für mich vollkommen nachvollziehbar. Es ist berührend zu sehen, wie sie lernt, mit dieser Wut zu leben, wie sie sich langsam auflöst und Raum für Neues, für Schönes entsteht. Für mich ist WINDSTÄRKE 17 ebenso wie 22 BAHNEN, ein Film voller Hoffnung und voller Potenzial – mit einer modernen Heldin im Zentrum.

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