Filmgespräch

Regisseurin Christina Tournatzés über KARLA: "Unter jedem Stein, an jeder Bushaltestelle lassen sich spannende Geschichten finden."

Die griechisch-deutsche Regisseurin Christina Tournatzés (*1992) studierte Regie an der Macromedia Akademie für Medien und Design in München und drehte ihren Abschluss-Kurzfilm CARGO – DER TRANSPORT (2019) über den Flüchtlingstransport auf der Balkanroute, beim dem im Jahr 2015 71 Menschen in einem Lastwagen erstickten. KARLA ist ihr erster Langfilm.

Pamela Jahn: Frau Tournatzés, Ihr Film KARLA ist inspiriert von einem wahren Gerichtsfall aus dem persönlichen Umfeld der Drehbuchautorin Yvonne Görlach. Haben Sie sich bei der Annäherung an das Projekt dadurch auf eine Weise befangen gefühlt?

Nein, im Gegenteil. Für mich war es sehr hilfreich, dass Yvonne eine direkte Beziehung zu der wahren Karla hat. Mein Anspruch war es, auch in der fiktionalen Erzählung möglichst authentisch zu bleiben. Ich habe mich in der Hinsicht bewusst von Yvonnes Vorgabe leiten lassen, wie dieses 12-jährige Kind Anfang der 1960er Jahre mit ihrer Missbrauchsgeschichte ganz allein den Weg vors Gericht wagt.

Dadurch entstehen automatisch Auslassungen, weil Sie aus der Perspektive eines Mädchens erzählen, das Mühe hat, darüber zu reden, was sie durchgemacht hat.

Wir wollten Karla eine Stimme geben, ohne das Unsagbare aussprechen zu müssen. So hat es die echte Karla selbst formuliert. Sie hat oft gesagt, sie kann und will nicht darüber sprechen, was ihr genau passiert ist, aber sie will darüber reden, wie sie sich damals gefühlt hat. Diese Limitation hat mich kreativ vor eine spannende Herausforderung gestellt.

Inwiefern?

Ich habe zusammen mit dem Kameramann Florian Emmerich eine sehr würdevolle und achtsame Bildsprache entwickelt, die bewusst Lücken lässt - gerade in den psychologischen Flashbacks, in denen Karla ihr Trauma noch einmal durchlebt. Die Schauspielerin Elise Krieps ist in diesen Rückblenden nie zu sehen. Sie war auch nicht am Set, als wir diese „Andeutungen“ gedreht haben. Wir zeigen keinen sexuellen Übergriff. Es sind immer die Momente kurz bevor etwas passiert oder danach. Aber selbst diese Augenblicke wollte ich nicht mit Elise drehen, weil ich es grundsätzlich für grenzwertig halte, solche schrecklichen Erfahrungen nachzustellen, selbst wenn es sich um eine erwachsene Person handeln würde. Und bei einem Kind ist es für mich ein absolutes No-Go.

In Karlas Erinnerungen vermischen sich oftmals Realität und Fantasie.

Ja, es gibt ihre Traumwelt und das Hier und Jetzt. Immer wenn sie gedanklich abdriftet, tut sie das, um sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen, sei es eine Blumenwiese oder ein Spiel mit ihren Freunden.

War das ihre Rettung, um mit dem, was sie erlebt hat, klarzukommen?

Es war ihre große Kraft. Sie hat Sachen erfunden, die für sie in dem Moment wahr waren, sozusagen eine bessere Realität als ihre eigene. Am Ende wird ihr das zum Verhängnis. Und es ist tatsächlich oft so, dass gerade jungen Menschen dann unterstellt wird, sie würden lügen, obwohl es eigentlich eher ein Schutzmechanismus der Psyche ist.

In den Medien wird über Missbrauchsfälle häufig mit Fokus auf den oder die Täter berichtet. Wollten Sie dem bewusst etwas entgegensetzen?

Genau. Man darf die Betroffenen auch nicht immer nur als Opfer darstellen. Diese Art von „victimising“ finde ich schwierig, das steht uns nicht zu. Allein deshalb finde ich den aktuellen Fall um Gisèle Pelicot auch so extrem wichtig. Ihre Aussage, die Scham müsse die Seiten wechseln, hat mich sehr bewegt. Und er trifft zu 100% auch auf Karlas Geschichte zu. Gisèle Pelicot hat es geschafft, dass jetzt jeder ihren Namen kennt und sie gleichzeitig als eine unglaublich starke Frau gesehen wird.

Bei der ersten Befragung mit den Polizisten sagt Karla nur den Namen des Mannes, den sie anklagen will, ohne zu erwähnen, dass es sich dabei um ihren Vater handelt. Warum?

Dadurch wird deutlich, in was für einem unglaublichen Dilemma sie steckt. Um sich selbst zu retten, muss sie sich gegen ihre Familie stellen. Im ersten Moment will sie, glaube ich, selbst nicht wahrhaben, dass es sich um ihren Vater handelt, weil sie sich unglaublich schämt. Für ein Kind ist die Familie alles, ihre ganze Identität baut darauf auf. Deshalb schweigen so viele Betroffene in ähnlichen Situationen viel zu lange oder warten, bis sie älter sind, bevor sie ihr Schweigen brechen.

Karla ist nicht nur mutig, sie ist auch unglaublich klug für ihre Alter. Sie weiß um den Paragrafen 176 und kennt ihre Rechte. Erstaunlich, oder?

Absolut. Nichts davon ist erfunden. Auch dass sie sofort einen Richter verlangt hat und nicht mit den Polizisten reden wollte, entspricht der Wahrheit. Karla hatte Angst, die Beamten würden ihr am Ende nicht glauben und sie wieder nachhause schicken. Außerdem wollte sie verhindern, alles mehrmals erzählen zu müssen und von einer Stelle zur anderen weitergereicht zu werden. Was sie nicht abschätzen konnte, war, dass es trotzdem ein langer Weg sein würde, bis die Sache schließlich vor Gericht verhandelt wird. Sie hat gedacht, sie erzählt es dem Richter einmal, und das reicht. Das war ihre Hoffnung. Dass man sie wiederholt verhören und nach allen möglichen Details fragen würde, war ihr in dem Moment nicht bewusst.

Im Film kommt der Richter Lamy auf die Idee, Karla eine Stimmgabel zu geben, um ihr das Reden zu erleichtern. Immer wenn sie damit auf die Tischkante schlägt, wirkt es wie ein stummer Schrei. War das Ihr Einfall?

Ja, das ist tatsächlich ein Hilfsmittel, das wir erfunden haben, um diesen Befreiungsschlag zu veranschaulichen. Es war mir wichtig, dass auch die fiktive Karla selbstbestimmt agiert. Deswegen ist zum Beispiel auch die Tonebene sehr schlicht gehalten, es gibt keine Musik, außer sie läuft in einer Szene im Hintergrund, etwa auf dem Plattenspieler oder im Radio. Dadurch gewinnt jeder Schlag mit der Stimmgabel noch einmal mehr an Bedeutung, und es passt auch sehr gut zu Karla, weil sie selbst Gitarre spielt. Dahinter verbirgt sich eine weitere Parallele zur echten Karla, denn auch sie konnte ihre Gitarre nicht selbst stimmen, sondern musste immer ihren Vater fragen.

Dagegen verbindet Karla und den Richter die Tatsache, dass es im Grunde bei beiden um ihre Glaubwürdigkeit geht.

Für mich spielt noch etwas anderes eine Rolle: ihre Naturverbundenheit. Man spürt es, wenn Karla ganz schelmenhaft sein Richterzimmer durchkämmt oder in dem Herbarium blättert und die darin getrockneten Blätter oder Blumen anschaut.

Sie haben für die Rolle direkt Elise Krieps angefragt, ohne ein klassisches Casting. Wie kam es dazu?

Es war eine Idee unserer Produzentin Melanie Blocksdorf, die kurz zuvor mit Vicky Krieps gedreht hatte. Dabei ist ihr auch Elise ab und zu am Set begegnet, und wir wussten, dass es bereits einen Kurzfilm gab, in dem sie mitgespielt hat. Daraufhin haben wir sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, auch eine größere Rolle zu übernehmen. Das heißt jedoch nicht, dass wir sie blind engagiert haben. Ich wollte sie vorab unbedingt auch persönlich kennenlernen, um zu schauen, wie sie auf mich wirkt und ob wir uns überhaupt verstehen. Aber schon nach unserem ersten Treffen war recht schnell klar, dass ich mit ihr arbeiten wollte.

Wie genau haben Sie mit Elise über die Missbrauchsthematik gesprochen?

Am Anfang hatten wir - Elises Eltern und ich - uns darauf geeignet, dass ihre Tochter das Drehbuch erst einmal gar nicht komplett lesen sollte. Wir haben zwar über den Fall gesprochen, aber ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Entscheidend für die Zusammenarbeit war, dass wir chronologisch drehen, sodass sich Elise während des Drehs emotional mit Karla weiterentwickeln konnte. Mit jeder neuen Instanz, der sie begegnet, jedem neuen Raum, den sie betritt, trifft sie auf eine ihr unbekannte Welt und in der muss sie sich verhalten - angefangen bei der Polizei bis hin zum Gerichtssaal.

Wann haben sich Elise und Rainer Bock, der den Richter Lamy spielt, kennengelernt?

Auch erst am ersten Drehtag. Das wiederum war für Rainer Bock eine Herausforderung, weil er natürlich Proben gewohnt ist und sie sich auch gewünscht hätte.

Das heißt aber, Elise kennt das Drehbuch bis heute nicht in Gänze?

Doch irgendwann, ungefähr nachdem wir die Hälfte gedreht hatten, kam Elise zu mir und meinte, sie hätte gestern alles gelesen, weil sie es nervig fand, dass immer alle außer ihr wussten, worum es genau geht und wie die Geschichte endet. Und das war für mich auch vollkommen in Ordnung. Worauf es mir ankam, war, dass sie sich zu jedem Zeitpunkt in einem geschützten Rahmen bewegen konnte. Mittlerweile hat sie den Film dreimal gesehen und neulich sagte sie mir, dass sie ihn jetzt auch wirklich als Ganzes begreifen kann in seiner ganzen Komplexität.

Ihr Uni-Abschlussfilm CARGO basiert ebenfalls auf einem wahren Fall. Sie erzählen darin von den 71 Flüchtlingen, die 2015 in einem luftdichten Lkw auf dem Weg nach Österreich erstickt sind. Haben Sie ein besonderes Interesse an realen Geschichten?

Sagen wir so: Zufall ist es nicht. Unter jedem Stein, hinter jeder Mauer, in jedem Hauseingang, auf jedem Balkon, an jeder Bushaltestelle lassen sich spannende Geschichten finden und jeder Mensch sieht sie aus seiner eigenen Perspektive. Und gerade jetzt am Anfang meiner Karriere empfinde ich es schon auch als eine Art Gütesiegel, wenn am Anfang der Hinweis kommt: Nach einer wahren Geschichte. Das hat etwas Besonderes, und ich habe das Gefühl, die Menschen gucken dann vielleicht genauer hin. Aber grundsätzlich ist es für mich persönlich kein Muss. Ich würde in Zukunft auch gerne mal einen Genrefilm drehen, oder einfach verschiedene Dinge ausprobieren und andere Wege gehen.

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Im Jahr 1962 verklagt die zwölfjährige Karla den eigenen Vater wegen Missbrauchs.

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