Pamela Jahn: Frau Tournatzés, Ihr Film KARLA ist inspiriert von einem wahren Gerichtsfall aus dem persönlichen Umfeld der Drehbuchautorin Yvonne Görlach. Haben Sie sich bei der Annäherung an das Projekt dadurch auf eine Weise befangen gefühlt?
Nein, im Gegenteil. Für mich war es sehr hilfreich, dass Yvonne eine direkte Beziehung zu der wahren Karla hat. Mein Anspruch war es, auch in der fiktionalen Erzählung möglichst authentisch zu bleiben. Ich habe mich in der Hinsicht bewusst von Yvonnes Vorgabe leiten lassen, wie dieses 12-jährige Kind Anfang der 1960er Jahre mit ihrer Missbrauchsgeschichte ganz allein den Weg vors Gericht wagt.
Dadurch entstehen automatisch Auslassungen, weil Sie aus der Perspektive eines Mädchens erzählen, das Mühe hat, darüber zu reden, was sie durchgemacht hat.
Wir wollten Karla eine Stimme geben, ohne das Unsagbare aussprechen zu müssen. So hat es die echte Karla selbst formuliert. Sie hat oft gesagt, sie kann und will nicht darüber sprechen, was ihr genau passiert ist, aber sie will darüber reden, wie sie sich damals gefühlt hat. Diese Limitation hat mich kreativ vor eine spannende Herausforderung gestellt.
Inwiefern?
Ich habe zusammen mit dem Kameramann Florian Emmerich eine sehr würdevolle und achtsame Bildsprache entwickelt, die bewusst Lücken lässt - gerade in den psychologischen Flashbacks, in denen Karla ihr Trauma noch einmal durchlebt. Die Schauspielerin Elise Krieps ist in diesen Rückblenden nie zu sehen. Sie war auch nicht am Set, als wir diese „Andeutungen“ gedreht haben. Wir zeigen keinen sexuellen Übergriff. Es sind immer die Momente kurz bevor etwas passiert oder danach. Aber selbst diese Augenblicke wollte ich nicht mit Elise drehen, weil ich es grundsätzlich für grenzwertig halte, solche schrecklichen Erfahrungen nachzustellen, selbst wenn es sich um eine erwachsene Person handeln würde. Und bei einem Kind ist es für mich ein absolutes No-Go.
In Karlas Erinnerungen vermischen sich oftmals Realität und Fantasie.
Ja, es gibt ihre Traumwelt und das Hier und Jetzt. Immer wenn sie gedanklich abdriftet, tut sie das, um sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen, sei es eine Blumenwiese oder ein Spiel mit ihren Freunden.
War das ihre Rettung, um mit dem, was sie erlebt hat, klarzukommen?
Es war ihre große Kraft. Sie hat Sachen erfunden, die für sie in dem Moment wahr waren, sozusagen eine bessere Realität als ihre eigene. Am Ende wird ihr das zum Verhängnis. Und es ist tatsächlich oft so, dass gerade jungen Menschen dann unterstellt wird, sie würden lügen, obwohl es eigentlich eher ein Schutzmechanismus der Psyche ist.
In den Medien wird über Missbrauchsfälle häufig mit Fokus auf den oder die Täter berichtet. Wollten Sie dem bewusst etwas entgegensetzen?
Genau. Man darf die Betroffenen auch nicht immer nur als Opfer darstellen. Diese Art von „victimising“ finde ich schwierig, das steht uns nicht zu. Allein deshalb finde ich den aktuellen Fall um Gisèle Pelicot auch so extrem wichtig. Ihre Aussage, die Scham müsse die Seiten wechseln, hat mich sehr bewegt. Und er trifft zu 100% auch auf Karlas Geschichte zu. Gisèle Pelicot hat es geschafft, dass jetzt jeder ihren Namen kennt und sie gleichzeitig als eine unglaublich starke Frau gesehen wird.
Bei der ersten Befragung mit den Polizisten sagt Karla nur den Namen des Mannes, den sie anklagen will, ohne zu erwähnen, dass es sich dabei um ihren Vater handelt. Warum?
Dadurch wird deutlich, in was für einem unglaublichen Dilemma sie steckt. Um sich selbst zu retten, muss sie sich gegen ihre Familie stellen. Im ersten Moment will sie, glaube ich, selbst nicht wahrhaben, dass es sich um ihren Vater handelt, weil sie sich unglaublich schämt. Für ein Kind ist die Familie alles, ihre ganze Identität baut darauf auf. Deshalb schweigen so viele Betroffene in ähnlichen Situationen viel zu lange oder warten, bis sie älter sind, bevor sie ihr Schweigen brechen.
Karla ist nicht nur mutig, sie ist auch unglaublich klug für ihre Alter. Sie weiß um den Paragrafen 176 und kennt ihre Rechte. Erstaunlich, oder?
Absolut. Nichts davon ist erfunden. Auch dass sie sofort einen Richter verlangt hat und nicht mit den Polizisten reden wollte, entspricht der Wahrheit. Karla hatte Angst, die Beamten würden ihr am Ende nicht glauben und sie wieder nachhause schicken. Außerdem wollte sie verhindern, alles mehrmals erzählen zu müssen und von einer Stelle zur anderen weitergereicht zu werden. Was sie nicht abschätzen konnte, war, dass es trotzdem ein langer Weg sein würde, bis die Sache schließlich vor Gericht verhandelt wird. Sie hat gedacht, sie erzählt es dem Richter einmal, und das reicht. Das war ihre Hoffnung. Dass man sie wiederholt verhören und nach allen möglichen Details fragen würde, war ihr in dem Moment nicht bewusst.