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Regisseur Edgar Reitz über LEIBNIZ - CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES: "Es gibt keine Trennung innerhalb der Schöpfung."

Edgar Reitz, geboren 1932, ist einer der Vordenker des Neuen deutschen Films. Sein Hauptwerk sind die drei Fernsehserien der „Heimat“-Trilogie, „Heimat – Eine deutsche Chronik“ (1984), „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ (1992) und „Heimat 3 -Chronik einer Zeitenwende“ (2004) mit dem Epilog „Heimat Fragmente: Die Frauen“ (2006) und dem vierstündigen Spielfilm DIE ANDERE HEIMAT (2012).

Pamela Jahn: Herr Reitz, wie wichtig ist heute die Philosophie?

Edgar Reitz: Wenn Sie die akademische Philosophie meinen, ist sie wahrscheinlich nicht mehr so entscheidend. Aber Philosophie bedeutet heute viel mehr: Neue Fragen zu entwickeln und sie anders zu stellen. Das Denken aus den wissenschaftlichen Zusammenhängen in die Praxis herauszuführen. Auch in die Politik, und in das menschliche Leben. Vielleicht ist in der Hinsicht der Begriff dann auch gar nicht mehr zutreffend.

Wie würden Sie es nennen?

Ein Nachdenken. Wir alle sind als Menschen in der Lage, uns aus der Situation, in der wir uns befinden, hinauszudenken. Wir haben in der Fantasie die Möglichkeit, uns die Konsequenz unseres Handelns vorzustellen und können für uns selbst entscheiden, ob wir das, was voraussichtlich geschehen wird, wollen oder nicht. Ein einfaches Beispiel: Sie kochen sich morgens einen Kaffee und überlegen, wie sie ihn trinken wollen, wo und mit wem. Das heißt, die Wahrnehmung unserer Freiheit hat damit zu tun, dass wir diese Vorstellungskraft besitzen, uns selbst im Kleinsten Alternativen auszudenken, dass wir uns eine andere als die reale Welt ausmalen können, zu jedem Augenblick und in jedem praktischen Zusammenhang. Und das ist die Basis einer modernen Philosophie.

Basiert auch Ihre Arbeit als Filmemacher auf dieser Denkweise?

Ich bin kein Philosoph, aber dieser Grundgedanke ist für mich eine Voraussetzung, um Filme zu machen. Ich kann nicht arbeiten, ohne mir vorzustellen, was wäre, wenn ich es nicht tun würde, oder ohne mir die Alternativen vor Augen zu halten.

Was verbindet Sie mit Gottfried Wilhelm Leibniz?

Der Name ist mir in meinem Leben immer wieder begegnet. Schon während des Studiums, als ich anfing, mich mit Filmen zu beschäftigen. Ich war immer auch interessiert an der Kulturgeschichte, als Hintergrund meiner künstlerischen Tätigkeit. Aber ganz konkret auf das Thema gestoßen bin ich, als die Stadt Hannover zum dreihundertsten Todestag von Leibniz eine Festveranstaltung plante und bei mir anfragte, ob ich nicht eine Idee hätte, filmisch etwas dazu beizutragen. Daraufhin habe ich mich noch einmal genauer mit der Biografie von Leibniz und seiner Zeitgeschichte auseinandergesetzt.

Was unterscheidet ihn von anderen Philosophen?

Es wird immer gesagt, seine Universalität sei das Besondere. Das trifft in gewisser Weise auch zu. Obwohl heutzutage Universalität etwas anderes bedeutet als zu Leibniz' Zeiten. Es kann heute nicht mehr so einen klugen Menschen geben, der alles weiß. Das war in der Barockzeit gerade noch denkbar. Aber für mich ist das auch nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist Leibnitz' Erkenntnis, dass in der Natur alles mit allem verbunden ist, und dass man nicht irgendetwas berühren kann, ohne damit alles zu berühren. Es gibt keine Trennung innerhalb der Schöpfung, sagt er. Trotzdem ist nichts dem anderen gleich. In einer Welt, in der alles zusammenhängt, ist dennoch jedes einzelne Element unverwechselbar. Sogar ein Wassertropfen gleicht nicht dem anderen. Schon gar nicht ein Mensch. Er ist nie mehr wiederholbar und gleichzeitig stets mit allen anderen Lebewesen verbunden. Was man einem antut, tut man allen an. Was man einem schenkt, schenkt man allen.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Am Beispiel, das wir im Film gewählt haben, lässt sich das wunderbar beschreiben. Denn bei der Porträtmalerei geht es schließlich um die Schwierigkeiten mit dem Unverwechselbaren und das Einfangen des nie mehr Wiederholbaren. Es fängt gleich bei dem Hofmaler zu Beginn an: Der kommt her mit einem vorfabrizierten Bild. Da sind die Haare schon gemalt und das Gewand - nur das Gesicht fehlt. In dem Moment ist die Individualität schon zerrissen, und Leibniz stellt die Frage: Worin liegt die Wahrheit des Bildes? Erzählt das Bild wirklich etwas über mich?

Für Leibniz scheint die Antwort klar.

Er kommt zu dem Schluss: Alle Bilder lügen. Kein Bild kann wahr sein. Aber das gilt nicht in der Kunst. Denn hier liegt die Wahrheit des Bildes woanders. Es geht nicht nur um die Ähnlichkeit zwischen dem Bild und der Wirklichkeit. Nur, was heißt das, die Ähnlichkeit? Gibt es irgendwo eine Zone der Oberfläche in der mein Wesen sichtbar wird? Ja, die gibt es tatsächlich im gemalten Bild. Da muss eine metaphysische Berührung stattgefunden haben. Denn sonst könnten wir uns nicht verstehen. Und sonst wären wir auch gar nicht hier. Diese Übergänge zwischen Innen und Außen zu beschreiben, das ist die Aufgabe der Kunst. Mit anderen Worten: Es gibt eine künstlerische Wahrheit, und die liegt sozusagen in einer Innensicht, in einer inneren Dimension. Denken Sie nur an die Mona Lisa. Jeden Tag strömen die Besucher zu Tausenden in den Louvre, um sich dieses Porträt anzuschauen, nichts anderes als ein Bild, aber die abgebildete Person bleibt im Kunstwerk über Jahrhunderte hinweg lebendig und sieht die Menschen mit ihrem rätselhaften Lächeln an.

Gilt das Gleiche für den Film?

Ja. wenn ich im Film eine Geschichte erzähle, ist sie nicht einfach aus dem Nichts gegriffen. Sie ist nicht beliebig, sondern ich zeige damit etwas, was mich wirklich berührt. Und in der Beschreibung möchte ich auch, dass dieser Film mit seinen Bildern, diese innere Wahrheit einfängt. Das gilt auch für das Porträt von Leibniz.

Die Malerin aus den Niederlanden sagt einmal zu Leibnitz, Maler müssten den Raum in eine Fläche verwandeln, dabei seien zwei Augen eins zu viel. Deshalb trägt sie eine Augenklappe. Ist für Sie als Regisseur die Kamera eine Art drittes Auge?

Die Szene ist eine scherzhafte Anspielung auf große Filmemacher wie Fritz Lang oder John Ford, die bekanntlich Augenklappen trugen. Ich habe aber schon immer gefunden, dass man einen Film eigentlich mit geschlossenen Augen macht. Mir ist es immer wieder so ergangen, wenn ich morgens zum Studio oder zu Dreharbeiten an eine Location gefahren werde: Ich sitze im Auto und halte die Augen geschlossen, um das innere Bild wachzurufen, das der Film, an dem ich gerade arbeite, meint. Wenn ich schließlich am Set ankomme, muss ich es meinen Mitarbeitern und meinen Schauspielern erklären können. Nicht nur die Äußerlichkeiten, nicht die Bewegungen, auch nicht einmal die Worte, die gesprochen werden, sondern die innere Sicht muss stimmen. Und das sehe ich als Hauptaufgabe bei der gesamten Regiearbeit. Es geht immer um die Innensicht.

Die Idee der Verbundenheit von allem und gleichzeitig die Individualität des Einzelnen, die sich daraus ergibt hat sich auch auf Ihre Filmografie übertragen, die auf einem ähnlichen Prinzip aufgebaut ist.

Ja, das scheint bei mir eine unbewusste Affinität zu Leibniz sein. Ich habe mich auch in Zeiten, wo ich den Namen überhaupt nicht im Kopf hatte, immer an seinem Denken orientiert.

Sie haben den Hofmaler mit Lars Eidinger besetzt. Was verkörpert seine Figur?

Für die Rolle brauchte ich einen wirklich brillanten Schauspieler, zumal es sich um eine Einleitungssequenz handelt. Der Hauptfilm, den ich immer vor Augen hatte, spielt zwischen Leibniz und der Malerin aus den Niederlanden. Aber um über die ersten großen Fragen hinwegzukommen, habe ich die Figur des Hofmalers geschaffen. Es ist keine historische, sondern eine fiktive Person, für die es keine Vorbilder gibt. Daraus eine glaubwürdige Figur zu machen ist schwierig. Auch die Komik der Situation zu verstehen. Der Maler schaut sein Modell – den berühmten Philosophen! - an und sagt: „Denken Sie an nichts“. In dem Augenblick die richtige Balance zwischen Ernst und Witz zu erfassen, verlangt unheimlich viel Feingefühl, das Lars Eidinger eben besitzt.

Leibniz hat sichtlich Mühe mit dem Porträtsitzen. Wie gelassen wären Sie selbst als Modell?

Gar nicht, ich bin zu nervös, viel zu zappelig dafür. Ich leide deshalb auch immer sehr, wenn ich bei einer Premiere von Fotografen umzingelt werde. Alle knipsen ständig, ohne dass ich die Hintergründe kenne. Ich weiß nicht, wer bezahlt den Fotografen? Wer druckt das Bild? Wo hat er gelernt, mit seiner Kamera zu arbeiten? Sie werden immer wieder erleben, dass ein Filmemacher es nicht sehr gerne hat, selbst vor der Kamera zu stehen. Warum? Weil wir wissen, wie es auf der anderen Seite ist. Ich muss dann oft an den wunderbaren Stanley Kubrick denken, von dem es auch fast keine Fotos gibt.

Sind Sie als Filmemacher geduldiger?

Ich lasse den Schauspielern viel Zeit, weil ich denke, dass die innere Wahrhaftigkeit, von der ich gesprochen habe, reifen muss. Etwas muss sich öffnen, das man nicht willentlich zustande bringt. Dafür braucht es Geduld. Es gibt unter den Regisseuren meines Erachtens zwei grundverschiedene Typen: Die einen sind die Dompteure, die Raubtierbändiger. Die wollen immer alles mit viel Energie und Autorität steuern. Und dann gibt es die Gärtner, die etwas pflanzen und abwarten. Zu denen zähle ich mich.

Entscheidend für die Ästhetik des Films ist, wie Sie mit dem Licht spielen.

Ja, das war mir ein sehr wichtiger Punkt. Wir haben die Malerei dieser Zeit studiert, konkret: Caravaggio. Ein wunderbarer italienischer Maler, der eine ganz neue Methode erfunden hat, nämlich die Leinwand schwarz zu grundieren, statt weiß wie bisher. Das heißt, er malte nicht Konturen, nicht Linien wie die anderen, sondern das Licht. Und wenn man heute die Bilder von Caravaggio betrachtet, auch von Rembrandt, der so ähnlich arbeitete, dann sieht man: Das sind die Erfinder des modernen Filmlichts. Man steht im Museum und denkt, das könnten Film-Stills sein. Die Bilder von Caravaggio können einen tatsächlich an Standfotos zu amerikanischen Ausstattungsfilmen erinnern.

Wie haben Sie seine Methode in Ihrem Film umgesetzt?

Wir haben den Arbeitsraum von Leibniz in einem Studio so nachgebaut, dass er den Arbeitsbedingungen der Maler im 17. Jahrhundert entsprach. Bei Caravaggio kann man das an einzelnen Bildern genau studieren. Damals gab es bekanntlich keine Scheinwerfer oder Lampen, sondern Kerzen oder mal ein Öllämpchen. Das Hauptlicht kam immer durch die Fenster, die oft sehr hoch gelegen waren. Das Licht kam also von schräg oben, und es gab Fenster-Klappen in den Ateliers, die sich öffnen und schließen ließen, um das einfallende Licht zu steuern. Gleichzeitig benutzt die Malerin in unserem Film Spiegel, um das Licht wieder nach oben zurück auf ihr Objekt zu projizieren. So zu arbeiten, wie damals hat sehr viel Freude gemacht.

Das andere große Thema ist die Zeit, wie eigentlich in allen Ihren Filmen. Hat sich Ihr Verhältnis dazu seit Ihrer Arbeit an den drei „Heimat“-Zyklen verändert?

Ich habe meine Autobiografie „Filmzeit, Lebenszeit“ genannt. Das will sagen, man kann das eine nicht mit dem anderen gleichsetzen. Bestenfalls kann man Lebenszeit in der Filmzeit wiedergeben oder einfangen. Aber um auf Ihre Frage einzugehen: Ich bin der Sohn eines Uhrmachers und als Kind in einem Haushalt aufgewachsen, in dem es immer irgendwo tickte oder das Gebimmel von Stundenschlägen zu hören war. Schon als kleiner Junge habe ich mit meinem Vater immer wieder über die Zeit philosophiert. Und im Buch beschreibe ich auch ein Erlebnis mit meinem Großvater, der mir auf einem Spaziergang, da war ich vielleicht sieben oder acht Jahre alt, zu verstehen gab, dass die Kirchturmuhr im Dorf mir meine Todesstunde anzeigt. Seitdem hat mich immer wieder die Angstfrage beschäftigt, ob unser Leben tatsächlich zur Vergänglichkeit verdammt ist. Und eines der Motive, mich mit künstlerischer Arbeit zu beschäftigen, war die Hoffnung, dass die Kunst die Endlichkeit in gewisser Weise überwindet. Wenn ich ein wirklich schönes, ästhetisch gültiges Werk zustande bringe, verschaffe ich damit der Geschichte, die ich erzähle, ein kleines Stück Unsterblichkeit. Es mag naiv klingen. Aber ich denke, dass in jeder künstlerischen Tätigkeit Vieles von unseren kindlichen Ängsten weiterlebt.

Woher nehmen Sie die Energie, um noch immer Filme zu machen?

Ich habe ein Vorbild: Es ist der große portugiesische Filmemacher Manoel de Oliveira. Er drehte sein letztes Werk mit 106 Jahren und starb während der Produktion. Als Künstler wird man kein Rentner.

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Tipp von Susanne

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

‘Edgar Selge und Aenne Schwarz spielen ihre Denk-Dialoge wunderbar lebendig, lassen das Publikum teilhaben am Entstehen von Fragen und Ideen.’