Filmgespräch

Fatih Akin über AMRUM: "Man darf ihn nicht sofort mögen."

Am Drehbuch zu AMRUM arbeitete auch der Hamburger Regisseur Hark Bohm (NORDSEE IST MORDSEE) mit, von dessen Kindheitserinnerungen AMRUM erzählt.

Pamela Jahn: Herr Akin, können Sie sich ein Leben als Insulaner vorstellen?

Fatih Akin: Ja, schon. Ich bin zwar von Natur aus ein Großstadttyp, aber ich sage ständig zu meiner Frau: Komm, lass uns raus. Ich mach noch den einen Film fertig und dann ziehen wir nach Kreta oder sonst wo hin. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich mich dort auf Dauer wahrscheinlich furchtbar langweilen. Und wenn, dann müsste es auf jeden Fall eine Insel im Süden sein, wo das Wetter ein bisschen schöner ist.

Wann waren Sie zum ersten Mal auf Amrum?

Vor ein paar Jahren mit Hark Bohm.

Auf den Spuren seines Romans?

Lassen Sie mich zunächst etwas richtigstellen: Der Film basiert nicht auf dem Roman, es ist andersherum. Hark wollte ursprünglich eine andere Geschichte über den Zweiten Weltkrieg drehen, die ich produzieren sollte. Aber das Projekt stellte sich als zu teuer heraus. Trotzdem wollte er das Thema nicht loslassen, weil seine Eltern Nazis waren. Dann erzählte er mir von Amrum und seiner Kindheit dort. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, als in einer seltsamen Regelmäßigkeit verschiedenste Regisseure Filme über ihre eigene Vergangenheit drehten: BELFAST von Branagh, ROMA von Iñárritu. Irgendwann meinte ich zu Hark: Mach das doch auch. Als das Drehbuch fertig war, hat er es einem Freund zum Lesen gegeben, der Verleger ist. So kam es schließlich auch zu dem Roman.

Die Geschichte spielt in den letzten Kriegsmonaten. Wie sehr hat sich die Insel seitdem optisch verändert?

Amrum ist heute viel grüner. Wir Deutschen haben so eine seltsame Angewohnheit, gerade in Schleswig-Holstein, dass wir lauter Gewächs um unsere Häuser anpflanzen. Noch eine Hecke hier und ein Busch dort, damit man auf keinen Fall reingucken kann. Früher war das anders. 1945 sah die Insel viel karger aus. Darum haben wir bestimmte Sequenzen in Dänemark gedreht, an der Nordseeküste, wo es noch relativ unbepflanzte Gegenden gibt.

Im Fokus steht der 12-jährige Nanning, gespielt von Jasper Billerbeck. Was für ein Junge sollte er sein?

Eigentlich sind es zwei Kinder, Nanning und sein bester Freund Hermann. Zwischen beiden gibt es einen wesentlichen Unterschied. Kian Köppke ist so ein Typ, den mag man sofort, mit seinen großen braunen Augen, seiner Freundlichkeit. Ein kleiner Star wie aus einem amerikanischen Film. Bei Nanning dagegen war es mir wichtig, den Zuschauern die Sache nicht zu einfach zu machen. Er ist der Sohn von Nazis - auch wenn er nichts dafür kann. Man darf ihn nicht sofort mögen. Er muss sich die Sympathie des Publikums erst erarbeiten.

Ist das nicht sehr klischeehaft gedacht?

Vielleicht. Aber ich musste an 1900 von Bertolucci denken. Gérard Depardieu spielt darin einen Linken und Robert De Niro seinen rechten Counterpart. Man erkennt sofort, bei welcher Figur die Sympathie liegt. Das wollte ich vermeiden. Jasper gibt der Figur etwas Ambivalentes, schon rein optisch. Er sieht ein bisschen aus wie Helmut Schmidt als Teenager. Er hat eher ein Denker-Gesicht, nichts wirklich Ländliches. Und diese Belesenheit, auch das Elitäre, all das verwirrt im ersten Moment.

Wie sehr war „arisch“ ein Kriterium?

Gar nicht. Dass er blond und blauäugig ist, war eher Zufall. Aber wenn ich im Nachhinein bestimmte Fotos anschaue, auf denen Diane mit den Kids zu sehen ist, hat das schon auch eine besondere Ästhetik, die ich weder beim Casting noch am Set bewusst wahrgenommen habe.

Neben den tollen jungen Schauspielern treten Prominente wie Diane Kruger und Matthias Schweighöfer in Nebenrollen auf - aus rein pragmatischen Gründen?

Stars im Film zu haben, ist immer ein zweischneidiges Schwert: Einerseits hat man als unabhängiger Regisseur den künstlerischen Anspruch völlig frei von irgendwelchen Zwängen zu arbeiten, andererseits braucht man Geld, damit die Filme überhaupt entstehen können. Aber mit einer kleinen Independent-Firma allein kommt man bei einem Projekt wie diesem nicht weit. Bei Diane wusste ich, dass sie auf jeden Fall mitmachen würde, egal, in welcher Rolle, ob groß oder klein.

AMRUM ist Ihre zweite gemeinsame Zusammenarbeit nach Aus dem Nichts, in dem Diane Kruger in der Hauptrolle zu sehen ist. Wie sehr hat das von Vornherein die Dynamik verändert?

Ich habe gemerkt, wie viele Türen ihr Mitwirken aufmacht und auf was für ein anderes Level es den Film insgesamt hebt. Das war schon toll.

Auch diesmal verkörpert Diane als Schwester der Nazi-Mutter eine widerständige Person. Steckt da mehr dahinter?

Darüber haben wir lange geredet. AMRUM fühlt sich in der Hinsicht wie eine Fortsetzung ihrer antifaschistischen Figur von Aus dem Nichts an. Sie ist zwar nicht per se politisch in dem Film, aber sie wird es durch den Racheakt. In Amrum nimmt ihre Figur zwar weniger Raum ein, dennoch gibt es einen Zusammenhang. Und wir haben noch weitere Projekte geplant, die sich mit der Thematik auseinandersetzen. Deswegen war ihr Auftritt hier eigentlich doch auch ein konsequentes Zwischenspiel und auf jeden Fall mehr als nur ein Cameo.

Neben dem Krieg geht es im Film auch um Herkunft - ein Thema, das Sie in Ihren Filmen immer wieder umtreibt. Sind Sie froh, dass Sie sich aufgrund Ihrer türkischen Wurzeln zumindest die Schuldfrage der Deutschen am Holocaust nie direkt selbst stellen mussten?

Ich habe mich in THE CUT mit dem Völkermord an Armeniern auseinandergesetzt. Dabei habe ich viel gelernt. Vor dem Film war ich so drauf: Der Holocaust ist nicht meine Baustelle, das geht mich nichts an. Aber während der Arbeit an dem Projekt wurde mir mehr und mehr bewusst: Mensch ist Mensch. Völkermord ist Völkermord. Wir alle tragen die Verantwortung. Immer.

Sie habe an anderer Stelle erwähnt, die Arbeit an AMRUM hätte Ihre deutsche Seele berührt. Was genau meinen Sie damit?

Goethe hat es auf den Punkt gebracht. Er sagte: Da, wo die Bildung ist, ist das Vaterland. Auch ich habe Lesen und Schreiben auf Deutsch in Deutschland gelernt. Die ersten Filme habe ich im deutschen Fernsehen gesehen. Es mögen amerikanische, französische oder italienische Filme gewesen sein, aber sie waren auf Deutsch synchronisiert. Und nur weil meine Vorfahren keine Nazis waren, fühle ich mich nicht weniger von der deutschen Geschichte betroffen. Sie ist auch ein Teil von mir.

Was macht die Zeit kurz vor Kriegsende für Sie so spannend aus erzählerischer Sicht?

Um Ihre Frage filmisch zu beantworten, war Neorealismus ein entscheidender Kompass für mich. Ich wollte keine Nostalgie aufkommen lassen, sondern eher versuchen, die Zeit wirklich zu begreifen, von der ich erzähle. Deutschland im Jahre Null war in der Hinsicht eine wichtige Referenz, vor allem wegen der Einfachheit der Bilder, die Rossellini entwirft. Das ganze Trauma wirkt dadurch noch einmal viel stärker. Man stellt sich vor, wie die Menschen damals fast wie auf Auto-Pilot funktioniert haben müssen, weil man nur von einem Tag zum nächsten existiert.

Spannend ist, wie Amrum vom Leben der Menschen jenseits der Front erzählt, aus der Entfernung, und doch ist die Bedrohung unmittelbar präsent.

Im Kino tritt der Krieg meistens spektakulär in den Vordergrund, er handelt von brutalen Schlachten wie in SAVING PRIVATE RYAN oder von Hitler im Bunker mit Schäferhund wie in DER UNTERGANG. In THE ZONE OF INTEREST ist es das Nachbarhaus von Auschwitz. SON OF SAUL spielt direkt im Konzentrationslager. Aber es gibt wenig Filme, wo der Krieg nur am Rande existiert und man trotzdem spürt, welchen enormen Einfluss er auf die Gesellschaft hat.

Eine Art Running Gag im Film ist die Sache mit dem Honigbrot, das Nanning für seine Mutter zu besorgen versucht. Selbst in diesen leichteren Momenten wird die Brutalität der Zeit erkennbar.

Im Buch beschreibt Hark die Episode als eine Odyssee auf über 30 Seiten. Im Film ging das natürlich nicht. Für mich hat die Dramaturgie deshalb hier eher etwas von einem Computerspiel, in dem man ein Hindernis nach dem anderen überwinden muss, um aufs nächste Level zu kommen, immer mit dem Ziel im Blick. Aber jedes Mal, wenn man verliert, muss man wieder von vorne anfangen. Zurück auf Los wie beim Monopoly, um der Realität ins Gesicht zu sehen.

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