Filmgespräch

Regisseur Kleber Mendonça Filho über THE SECRET AGENT: "Ich erinnere mich an ganz bestimmte Details."

Kleber Mendonça Filho ist einer der bedeutendsten Filmemacher Brasiliens, seine Filme waren in Deutschland aber vor allem auf Festivals zu sehen. Sogar BACURAU (2019), der in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde und zu den Kritikerlieblingen zählte, war hier nur als Stream erhältlich. Mit THE SECRET AGENT kommt nun endlich ein Film des Regisseurs regulär ins Kino.

Pamela Jahn: THE SECRET AGENT spielt in Brasilien zur Zeit der Militärdiktatur. Warum beziehen Sie sich speziell auf das Jahr 1977?

Kleber Mendonça Filho Der Zeitpunkt liegt weit genug zurück, um den Film als Historienstück gelten zu lassen. Gleichzeitig ist die Handlung dadurch nah genug an meiner eigenen Biografie dran, damit ich der Geschichte eine persönliche Note geben kann. Ich bin Jahrgang 1968, also in den 1970er Jahren aufgewachsen, aber meine Kindheit erscheint mir im Nachhinein wie verschwommene Erinnerung. Bei den Achtzigern ist das anders, wenn ich daran denke, habe ich klare Bilder im Kopf, weil ich damals bereits ein Teenager war. Alles davor ist ein großer Wirrwarr aus verschiedenen Gerüchen und Texturen und einer bestimmten Atmosphäre. Der Film will diese Idee vermitteln. Ich sehe darin für mich eher die Rekonstruktion eines Zeitgefühls als ein historisches Set-Piece.

Haben Sie als Kind auch viele Filme geschaut?

Ja, ich war schon damals ein kleiner Cineast. Dafür gibt es einen bestimmten Grund: 1977/78 war meine Mutter sehr krank, sodass mein Onkel mich und meinen Bruder oft ins Kino mitnahm, um uns aus dem Haus zu locken. Erst Jahre später habe ich verstanden, warum er das tat. Aber es hatte einen großen Einfluss auf mein Leben. In GOODFELLAS gibt es diesen schönen Satz: „Soweit ich mich zurückerinnern kann, wollte ich immer Gangster werden.“ Ich habe mir immer gewünscht, Regisseur zu sein.

Wie stark ist Ihre Erinnerung an die Zeit der Diktatur?

Ziemlich stark. Aber was mich meistens an den Filmen stört, die über die Zeit erzählen, ist, dass sie sich vordergründig auf die Gewalt konzentrieren, die Folterszenen, die Verfolgungen, die Angst. Oder man sieht eine Gruppe junger Leute, die eine Bank ausrauben, um den Widerstand zu finanzieren. Das hat mich nicht interessiert.

Sondern?

Ich erinnere mich an ganz bestimmte Details: Zum Beispiel an die Hausmädchen – sie arbeiteten in verschiedenen Familien in unserer Nachbarschaft, und eine davon war meine Babysitterin. Einmal standen sie alle zusammen in einer kleinen Gruppe draußen auf der Straße, als ein Mann von der Marine im Auto angefahren kam. Er trug seine weiße Uniform mit Hut, und die Frauen waren hin und weg. Aber nach der Diktatur verlor das Militär so viel Respekt, dass der Anblick eines Soldaten in voller Montur genau das Gegenteil bewirkte. Die Leute sagten: Schafft diesen Idioten hier weg.

Gab es noch andere Ereignisse, die Ihnen hängengeblieben sind?

Ja, wie ich im Wohnzimmer spielte, während die Erwachsenen sich unterhielten. Manchmal wurden die Unterhaltungen leiser, dann flüsterten sie einander zu. Auch was das angeht, wurde mir erst viel später klar, warum und wieso. Das Gleiche gilt für die Freitagsmärsche in der Schule. Obwohl ich keine Militärakademie besuchte, mussten wir uns einmal die Woche wie Soldaten im Hof aufstellen und unsere Hand jeweils auf die Schultern des Vordermanns legen. Es war lächerlich. Allein die Aktion wäre schon fast genug Stoff für einen Film. Ich wollte ihm das Image eines klassischen Helden verleihen

Apropos sexy Marine-Offiziere: Was macht Wagner Moura für Sie mit der Figur von Marcelo?

Die Bedeutung von Stars wie ihm ist historisch gesehen wichtig für die Entwicklung des Kinos. Das habe ich zum ersten Mal bei den Dreharbeiten zu AQUARIOUS verstanden, als ich mit Sonia Braga zusammengearbeitet habe. Es mag naiv erscheinen, aber ich hatte keine Ahnung, wie sehr sie den Film allein mit ihrer Ausstrahlung beeinflussen würde, bis ich sie durch die Kamera sah und dachte: Wow, darum geht es also. Denn in natura wirkt sie lediglich wie eine schöne und elegante ältere Dame von heute. Aber wenn man durch den Sucher blickt, ist da plötzlich mehr. Charisma oder, ich weiß nicht. Ich habe es einfach akzeptiert.

Ist Marcelo ein Held im klassischen Sinn?

Ich wollte ihm das Image eines klassischen Helden verleihen, mit einer Ausnahme. Der Haken ist, dass die Figur keine Waffe trägt oder schießt. Es war die einzige Bedingung, die ich mir und Wagner selbst auferlegt habe.

Warum?

Weil Marcelo einfach ein Mann ist, der versucht, seinen Werten treu zu bleiben. Es scheint verrückt, dass er allein deshalb um sein Leben fürchten muss. Aber ist doch sehr nah an der Realität, in der wir heute leben.

Was hat es mit der Eingangsequenz auf sich, in der Fischer ein menschliches Bein im Bauch eines Hais finden?

Ich habe viel über Cronenberg nachgedacht, als ich die Szene geschrieben
habe. Gewalt im Kino muss meiner Ansicht nach hässlich sein, aber meistens ist sie das Gegenteil: Sie scheint ganz normal oder wird glorifiziert. Die wahre organische Qualität von Gewalt wird dabei ausgeblendet. Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Wenn das Bein aus dem Hai entfernt wird, ist das eine ziemlich dreckige Angelegenheit, es stinkt und matscht, denn so ist es nun einmal. Es ist hart. Man kann es nur so darstellen, wenn man unsere menschliche Natur respektiert.

In Ihrem Dokumentarfilm PICTURES OF GHOSTS aus dem Jahr 2023 haben Sie alte Filmpaläste in Ihrer Heimatstadt Recife wieder besucht. Inwiefern hat dieser Filmessay Einfluss auf THE SECRET AGENT gehabt?

Während meiner Recherche zu PICTURES OF GHOSTS habe ich viele Jahre damit verbracht, Archivmaterial zu sichten. Die Aufnahmen stammten aus meiner eigenen Sammlung sowie aus dem öffentlichen Bestand der brasilianischen Cinematheque. Über einen Zeitraum von sieben Jahren habe ich auf diese Weise die emotionale Grundlage geschaffen, auf der ich THE SECRET AGENT geschrieben habe. Es handelt sich natürlich um sehr unterschiedliche Werke. Der eine Film ist eher experimentell angelegt, der andere eine fiktionale Erzählung, aber sie bedingen sich auf der Gefühlsebene gegenseitig.

Aber wie zuvor in BACURAU spielen Kinos als Zufluchtsorte eine wichtige Rolle. Warum?

Interessant, dass Sie BACURAU ansprechen. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: Dort fungiert das historische Museum der Stadt metaphorisch als Kino und wird konkret als Bunker für die Gemeinde genutzt. In THE SECRET AGENT findet ein Treffen im Kino statt, genauer gesagt: in der kleinen Wohnung neben dem Vorführraum; die Szene ist wesentlich für die Erzählung. Das Kino dient dabei jedoch vor allem als eine Art zeitliche Orientierungshilfe, denn wenn dort Richard Donners THE OMEN gezeigt wird, weiß man ungefähr Bescheid, in welchem Jahr wir uns befinden.
In Europa werde ich anders behandelt.

Es gibt in der Szene, die Sie angesprochen haben, auch eine ganz besondere Einstellung aus dem Fenster der kleinen Kino-Wohnung. Zu sehen ist ein beeindruckendes Panorama. Wie haben Sie für sich entschieden, wann Sie die Einstellung schneiden?

Auch das musste sich organisch anfühlen. Wenn man wie ich aus Recife stammt, bekommt man einen ziemlichen Kick bei dieser Einstellung mit Blick auf die Brücke, den Verkehr und die umliegenden Gebäude. Ein paar Freunde aus meiner Heimat, die den Film in Cannes gesehen haben, sagten mir hinterher, dass der Schwenk noch zehn Sekunden länger hätte dauern sollen. Aber ich bin anderer Meinung. Dann hätte es sich angefühlt, als wäre ich zu stolz darauf gewesen. Wenn man zu lange an einem Bild dranbleibt, wirkt es meist übertrieben.

Seit Ihrem Spielfilmdebüt NEIGHBOURING SOUNDS aus dem Jahr 2012 haben Sie sich als filmischer Geschichtenerzähler bemerkenswert weiterentwickelt ...

Das freut mich zu hören, denn ich habe das Gefühl, immer denselben Film zu drehen.

Ach ja, was für ein Film ist das?

Ich denke, dass ich in meinen Filmen ähnliche Dinge auf unterschiedliche Weise wieder aufgreife. Allerdings geschieht das unbewusst. Ich schreibe ein neues Drehbuch und wenn der Film fertig ist, stellt sich heraus, dass einige der Themen als politisch angesehen werden, aber das ist nie meine ursprüngliche Intention.

Wären Sie eigentlich selbst ein guter Geheimagent?

Nein, mir fehlt die Disziplin. Ich würde allein schon meinen Decknamen vergessen. Aber ich fühle mich manchmal wie ein Spitzel, was wahrscheinlich einer der vielen Gründe ist, warum ich diesen Film drehen wollte.

Wie meinen Sie das?

Meine Filme haben mir ein gewisses Ansehen verschafft. Aber als sich die politische Lage in Brasilien änderte, wurden wir Künstler plötzlich nicht nur zur Zielscheibe der neuen Regierung, sondern auch der sozialen Medien mit den rechtsextremen Konservativen. Wir wurden eingeschüchtert, angegriffen, zum Teil bedroht. In Europa werde ich anders behandelt. Ich wurde zum Beispiel mal als Ehrengast zu einem Filmfestival eingeladen, und der brasilianische Botschafter, der aus dem rechtsextremen Lager stammte, durfte nicht zum Empfang kommen. Ich fand das sehr absurd und fühlte mich in der Situation wie eine Art abtrünniger Agent meines eigenen Landes. Es erscheint mir so seltsam, dass sich auch diese Erfahrung indirekt im Film widerspiegeln wollte.

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Tipp von Tom

The Secret Agent

‘Ein eindringliches Porträt der brasilianischen Gesellschaft in der Diktatur. ’

Läuft ab Donnerstag

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