Filmgespräch

Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay über HYSTERIA: "Ein Kino, das Echtheit für sich beansprucht, finde ich enorm gefährlich."

Mehmet Akif Büyükatalay (*1987) wuchs in Hagen auf und studierte Mediale Künste in Köln. Sein Abschlussfilm ORAY wurde auf der Berlinale 2019 als bestes Debüt ausgezeichnet. Mit seiner Produktionsfirma filmfaust produzierte und schrieb Mehmet Akif Büyükatalay 2022 den Dokumentarfilm LIEBE, D-MARK UND TOD (R: Cem Kaya) über die türkische Musikszene in Deutschland, Gewinner des Panorama-Publikumspreises bei der Berlinale.

Pamela Jahn: Warum war es Ihnen so wichtig, am Ende zu erwähnen, dass im Film kein Koran verbrannt wurde?

Ich muss gestehen, ich war eigentlich erst dagegen, den Hinweis einzufügen. Aber mein Produktionspartner hat darauf bestanden. Wir haben viel darüber diskutiert und am Ende habe ich nachgegeben.

Warum waren Sie zunächst dagegen?

Weil ich im Film versucht habe, allen Seiten möglichst den gleichen Raum zu geben. Und ich hatte das Gefühl, dass ich durch diese Aussage am Schluss als Autor letztlich doch eine klare Position einnehmen und mich auf eine Seite stellen würde.

Andererseits schützt der Hinweis buchstäblich davor, unnötig Hysterie zu schüren. War das die Argumentation Ihres Produktionspartners?

Ja, aus seiner Perspektive habe ich es auch verstanden. Er fand, wir sollten nichts unnötig provozieren. Nur was den Titel angeht, auf den Sie anspielen, hat mich vor allem die Frage interessiert: Worin liegen die möglichen Ursachen, die zu dieser Hysterie führen, mit der gerade öffentliche Debatten geführt werden? Der verbrannte Koran im Film ist ein Missgeschick – aber warum schaffen es sechs Menschen nicht, ganz normal und vernünftig darüber zu sprechen? Hysterie hilft nicht, sie lähmt und führt lediglich zu nur noch größeren Missverständnissen und einer Verhärtung der Fronten.

Was definieren Sie den Begriff für sich selbst?

Hysterie ist, wenn alle behaupten, ich bin der Einzige, der die Wahrheit für sich beanspruchen darf. Doch so funktioniert Gesellschaft nicht. Die Welt ist zu groß, zu schön und zu komplex, als dass sie sich in eine einzige Wahrheit hineinpressen lässt. Viel wichtiger ist es, die verschiedenen Sichtweisen zu akzeptieren und in diesem krassen Wirrwarr von Meinungen so etwas wie eine Harmonie zu finden, anstatt zuzulassen, dass am Ende ein Feuer ausbricht.

Das eine ist der Wahrheitsanspruch, der problematisch ist. Auf den Film bezogen, kommt der Begriff der Authentizität dazu.

Ein Kino, das Echtheit für sich beansprucht, finde ich enorm gefährlich. Und Wahrheit wird oft durch Authentizität legitimiert oder erklärt.

Was ist schlimmer: Hysterie oder Paranoia?

Paranoia, weil sie der erste Schritt zur Hysterie ist. Ohne Paranoia würde es vielleicht gar nicht so weit kommen. Aber sie nährt sich am Bild des Anderen, des Unbekannten, des Fremden. In dem Moment, wo Angst zu unserem einzigen Motor wird, steigt sie in uns auf. Und ab dem Punkt ist es eigentlich nicht mehr möglich, offen miteinander zu reden, weil wir im Gegenüber nur noch das Falsche oder Schlechte sehen.

Kommen wir genauer auf HYSTERIA zu sprechen. Was für einen Film will Yiğit, der Regisseur im Zentrum Ihrer Geschichte, eigentlich drehen?

Er möchte sich persönlich mit den Anschlägen in Solingen auseinandersetzen. Er will zeigen, was da passiert ist. Sein Ansatz entspricht einer Form von Reenactment, indem er das Haus nachbauen lässt, das durch einen Terroranschlag niedergebrannt wurde, und dann Geflüchtete darin unterbringt, um echte Gefühle einzufangen. Es geht ihm darum, auf die Tragödie aufmerksam zu machen und die Menschen darüber aufzuklären.

Und was für einen Film wollten Sie drehen?

Keinen, der irgendwelche Ereignisse oder Konflikte emotionalisiert. Mich hat interessiert, zu hinterfragen, warum es uns nicht gelingt, gemeinsam einen Weg der gewaltfreien Verständigung zu finden. Stattdessen passiert ein Fehler und es entsteht sofort eine Hysterie – oder das, was wir heute vielleicht eher einen Shitstorm nennen.

War Solingen immer der Aufhänger für die Geschichte?

Ich hatte zunächst unterschiedliche Ideen. Erst war der Plan, dass der Regisseur 1979 von Christian Kracht adaptiert. Dann wollte ich den Roman selbst verfilmen. Aber als ich 2022 mit Cem Kaya LIEBE, D-MARK UND TOD gemacht habe – also, er hat Regie geführt und ich habe produziert und am Drehbuch mitgeschrieben –, musste ich mich unter anderem auch intensiv mit den Brandanschlägen auseinandersetzen. Dabei wurde mir bewusst, dass da bis heute eine tiefe Wunde klafft. Auch weil sich die Bilder aus Solingen unheimlich tief im Gedächtnis festgesetzt haben. Das ganze kollektive Trauma, die Angst, dass jederzeit ein neuer Anschlag passieren könnte, konzentriert sich in den Fotos und Videoaufnahmen von damals und lebt darin permanent weiter.

In was für einer Familie sind Sie aufgewachsen?

Ich stamme aus einem religiösen Elternhaus und bezeichne mich selbst auch als Muslim. Ich bin relativ früh auch mit den Klischees, die über Muslime bestehen, politisiert worden, zum Beispiel, wie arabische Frauen in den Kinderfilmen dargestellt wurden, die ich im Fernsehen geschaut habe, das hat bei mir als Kind immer Ohnmacht und Wut ausgelöst. Dazu kam, dass mein Vater als Fabrikarbeiter sehr politisch engagiert war. Aber wirklich entscheidend in meiner Jugend waren die Mohammed-Karikaturen, das war 2006, also noch vor Charlie Hebdo. Wir sind damals mit ein paar Jungs aus Hagen nach Duisburg gefahren und haben gegen die Karikaturen demonstriert. Der allgemeine Tenor war: Die Zeichnungen würden die religiösen Gefühle von Muslimen beleidigen. Aber in meiner jahrelangen Reflexion merkte ich, es geht nicht per se um irgendwelche Emotionen. Es geht um die koloniale Haltung.

Haben Sie bis heute das Gefühl, den Koran ständig verteidigen zu müssen?

Sagen wir mal so: Als Ausländer in Deutschland habe ich gar keine andere Wahl. Wir müssen den Koran sogar so weit verteidigen, dass wir nicht mehr fähig sind, selbst Kritik daran zu üben. Diese Ambivalenz ist immer da, vor allem, für mich als postmigrantischer Künstler. Man befindet sich stets in einer Verteidigerrolle, sodass man manchmal selbst nicht mehr objektiv auf die Arbeit draufschauen kann, die man produziert. Und man möchte auch fast nicht damit an die Öffentlichkeit gehen, weil man permanent befürchtet, der Applaus könnte aus der falschen Ecke kommen.

Sie haben es bereits angesprochen, im Film geht es um sechs Figuren mit jeweils verschiedenen Sichtweisen. Wie war das für Sie beim Schreiben, immer wieder die Blickwinkel zu wechseln und Gegenpositionen einzunehmen?

Ich hatte zwei Herausforderungen. Einerseits, dass ich versucht habe, jeder Perspektive wirklich gleichermaßen rechtzugeben, aber dabei die Hierarchien nicht unberücksichtigt zu lassen. Denn es gibt Machtverhältnisse, es gibt Rassismus, und ich musste aufpassen, dass ich mich da nicht in meinem Idealismus verliere – oder auch in meiner Wut. Denn darin lag die zweite Schwierigkeit. Es gab eine Figur, bei der ich den meisten Groll verspürt habe: Yiğit. Bei den ersten Drehbuchfassungen hatte ich echt meine Probleme mit ihm, weil er als Migrant dieses Thema gewissermaßen ausnutzt, aber nicht sensibel damit umgeht. Und vielleicht hat auch eine gewisse Klassenwut mitgespielt, weil er einer ist, der es geschafft hat.

Hat Ihnen Ihr eigener moralischer Kompass manchmal beim Schreiben im Weg gestanden?

Als Autor ist es das Schlimmste, wenn man aus irgendeiner Moral heraus Figuren schreibt. Klar, Moral ist enorm wichtig in der eigenen Lebensführung und wie ich mit Menschen umgehe. Aber in einer Kunst, in der ich nach einer Wahrheit suche, darf ich nicht moralisch werden, weil ich mich dann persönlich über die Figuren stelle – und das ist schrecklich eitel, das geht gar nicht.

Ist die Praktikantin Elif diejenige, mit der Sie sich am meisten identifizieren?

Ja, sie erinnert mich an meine erste Zeit an der Kunsthochschule. Wenn man in eine völlig neue Umgebung kommt, ist man erst mal entweder sehr impulsiv oder eher zurückhaltend. Man versucht zu verstehen, in welcher Welt man sich plötzlich bewegt. Diese Phase, in der man sich völlig losgelöst fühlt und mit den eigenen multiplen Identitäten ringt, wollte ich gemeinsam mit Devrim Lingnau nachempfinden. Auch diesen inneren Kampf, einerseits Karriere machen zu wollen, aber gleichzeitig ehrlich zu sich selbst zu bleiben. Oder einerseits die alte Welt zu verteidigen, und anderseits zur neuen Welt dazugehören zu wollen. Das schafft erst mal eine krasse Passivität. Man beobachtet alles und jeden, weil man keinen Fehler machen will und weil man akzeptiert und respektiert werden möchte, zumal als Migrant oder Migrantin. Nur das Problem ist, wenn man alles richtig zu machen versucht, läuft eben auch vieles falsch.

Ist Majid, der in Yiğits Film eine kleine Rolle spielt, vielleicht die widersprüchlichste Figur?

Wahrscheinlich schon, aber auch seinen inneren Konflikt kann ich sehr gut nachempfinden. Auf den ersten Blick denkt man: Der ist Islamist, so ein Radikaler. Aber darum geht es nicht. Er ist nicht unbedingt wütend, sondern eher verletzt und irgendwie kaputt. Aber im Herzen ist er ein guter Typ. Ich habe ihn immer auch ein bisschen wie meinen Vater gesehen, weil er in seiner ganzen Gebrochenheit dennoch versucht hat, ein guter Mensch zu sein.

Einmal sagt Majid sinngemäß zu Elif, für Filme würde es keinen Respekt geben. Empfinden Sie das ähnlich?

Absolut. Und ich sage mal so: Die kritische Haltung gegenüber Medien, vor allem bei Muslimen oder bei Ausländern, entsteht aufgrund der ewigen Stereotypisierung und der Vorurteile. Es herrscht eine enorm große Skepsis gegenüber Medien, weil sie uns immer falsch darstellen. Deshalb hat man als Künstler oder Künstlerin immer eine besondere Verantwortung, und man spürt eine enorme Erwartungshaltung. Als ich meinen ersten Film ORAY geschrieben habe, in dem es um muslimische Jungs in Deutschland geht, hatte ich immer das Gefühl, 1,6 Milliarden Muslime würden mir dabei über die Schulter schauen. Man muss nur Begriffe wie Islam oder Koran in den Mund nehmen und sofort herrscht eine Spannung im Raum.

Geht es dann im Film vielleicht auch weniger um die Macht der Bilder als um die Kraft der Sprache?

Es ist immer ein Wechselspiel. Im ersten Drittel geht es schon sehr um die Macht der Bilder, aber in dem Moment, wo die Figuren alle in einem Raum zusammenkommen, zählt vor allem die Sprache.

Ein Satz, der in HYSTERIA fällt, zielt darauf ab, dass Filme, wie Yiğit sie dreht, lediglich dazu beitragen würden, das schlechte Gewissen Europas zu beruhigen. Ist HYSTERIA bewusst als Gegenpol dazu gemeint?

Ja, weil ich glaube, das stimmt. Viele Filme werden gedreht, nicht um die Missstände zu beseitigen, sondern um sie zu zeigen und zu akzeptieren. Für mich sind das "Gutmensch"-Filme, die auf der richtigen moralischen Seite stehen. Es ist natürlich auch viel einfacher, immer wieder Geschichten über die Ausbeutung von Arbeitskräften in irgendwelchen Großbetrieben zu erzählen, als wirklich die Bedingungen zu verändern. Genauso wenig hilft es, diese Filme zu konsumieren und zu glauben, man sei dadurch irgendwie politisch aktiv oder Teil einer Bewegung. Das ist ein Irrglaube. Ich will, dass Filme dahinführen, dass ich mich selbst hinterfrage, dass ich meine Schwächen, Vorurteile und Ressentiments erkenne. Auch mit Sentimentalität kann ich nichts anfangen. James Baldwin hat das sehr schön beschrieben, dass der sentimentale, der mitleidsvolle Blick eigentlich immer der Blick von oben nach unten ist. Er ist nie auf Augenhöhe. Aber genau darum geht es.

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