Filmgespräch

Regisseur Joachim Trier über SENTIMENTAL VALUE: "Vielleicht ist Zärtlichkeit der neue Punk."

Joachim Trier (*1974) wuchs als Kind einer dänischen Mutter und eines norwegischen Vaters in Oslo auf. Dort sind auch fünf seiner bisher sechs, allesamt hochdekorierten Spielfilme angesiedelt. Auch Triers jüngster Film SENTIMENTAL VALUE, der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, spielt wieder in seiner Heimatstadt.

Pamela Jahn: Herr Trier, ist SENTIMENTAL VALUE ein Film über die Schwierigkeit, Kunst und Familie unter einen Hut zu bringen?

Joachim Trier: Es ging mir nicht darum, eine Geschichte über eine Künstlerfamilie zu erzählen, wenn Sie das meinen. Vielmehr betrachte ich Kunst als eine alternative Sprachform. Seit meinem letzten Film THE WORST PERSON IN THE WORLD bin ich zweimal Vater geworden, und wenn ich meine Kinder beobachte, denke ich jedes Mal: Wow, sie tanzen und singen, malen und bewegen sich, und das alles, bevor sie überhaupt ein Wort sprechen können. Warum sozialisieren wir sie dann eigentlich auf Teufel komm raus? Warum beschränken wir sie in ihrer Ausdrucksweise, indem wir ihnen eine argumentative intellektuelle Sprache beibringen? Ist die reine Kreativität nicht das höchste Gut? Diese Gedanken brachten mich dazu, einen Film zu machen, in dem sich jeder, unabhängig davon, ob er aus einem Künstlerhaushalt kommt oder nicht, damit identifizieren kann, dass es innerhalb familiärer Beziehungen Formen der Verweigerung und der Kommunikation auf verschiedensten Ebenen gibt.

Stellan Skarsgård spielt einen Vater, der emotional nicht mit seinen Töchtern umgehen kann. Als Regisseur ist er dagegen sehr erfolgreich. Sehen Sie in seiner Figur Parallelen zu sich selbst?

Wie kommen Sie darauf? Nein, ganz im Ernst. Das Schöne ist, dass ich alle meine Filme zusammen mit Eskil Vogt schreibe, was für uns beide sehr gut funktioniert, weil wir dadurch jeweils einen gesunden Abstand zu den Figuren gewinnen und besser abstrahieren können. Am Ende fällt das Drehbuch dann immer nicht ganz so autobiografisch aus, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Wir können mal ein bisschen härter zu den Figuren sein oder mehr mit ihnen sympathisieren, je nachdem.

Der Film wirkt ernster als Ihre bisherigen Arbeiten. Würden Sie dem zustimmen?

Auch das ist ein natürlicher Prozess. Ich werde älter. Ich schaue anders auf mein Umfeld, auf die ganze Welt. Diesmal wollte ich über äußerst intime, private Dinge sprechen. Das ist mir jetzt wichtig, in diesem Moment, und dafür möchte ich mich nicht schämen müssen.

Woran denken Sie dabei konkret?

Wenn ich über Familie nachdenke, beziehe ich mich in erster Linie auf meine eigenen Kindheitserinnerungen. Mein Großvater war während des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft und hat nur knapp überlebt. Er war Widerstandskämpfer, nach dem Krieg wurde er Filmregisseur. Seine Geschichte war für mich immer etwas ganz Besonderes. Jetzt bin ich älter, er ist nicht mehr da, und ich merke, wie schnell die Zeit vergeht. Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr sein Trauma sowohl mein Leben als auch das meiner gesamten Familie geprägt hat. Und wenn ich jetzt meine Kinder anschaue, denke ich: Braucht es drei Generationen, um das zu überwinden? Oder werden sie vom 20. Jahrhundert noch genauso geprägt sein wie ich?

Würden Sie sich selbst als einen sentimentalen Menschen bezeichnen?

Ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Wort. Auch der englische Begriff „sentimental value“ klingt für mich eigentlich eher wie ein kalter Coltrane-Song, wie ein melancholischer alter Jazz-Standard. Aber ich fand, irgendwie passt der Titel, weil er die subjektive Sicht jedes Einzelnen von uns beschreibt. Stellen Sie sich vor, Ihre Großmutter hat immer aus einer bestimmten Kaffeetasse getrunken, die Sie seit ihrem Tod hüten wie einen Schatz, obwohl alle anderen diese Tasse schrecklich hässlich finden. Es ist egal, denn nur Sie kennen den emotionalen Wert dieses Gegenstands, der Sie immer an Ihre Großmutter erinnern wird. Was mich daran, bezogen auf den Film, fasziniert hat, ist, wie sogar zwei Geschwister völlig unterschiedlich empfinden können. Das ist schon verrückt.

Welches Wort würde Ihren derzeitigen Gemütszustand besser beschreiben?

Ich weiß nicht, neulich habe ich mal wieder „Imagine“ von John Lennon gehört und war auf einmal zu Tränen gerührt. Ich finde die Zeit, in der wir leben, wirklich sehr kompliziert. Früher fand ich immer, dass es im Kino zu viel Mitgefühl gibt – ich war in meinen jungen Jahren ein ziemlich radikaler Typ. Jetzt spüre ich in mir selbst ein Gefühl von Verletzlichkeit. Das Risiko dabei ist natürlich, dass die Leute sagen: Oh je, er ist alt geworden. Er romantisiert, er ist emotional. Aber scheiß drauf.

Haben Sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen?

Ich stelle mir selbst die offene Frage: Was ist heutzutage eine radikale Position? Und vielleicht ist Zärtlichkeit der neue Punk. Vielleicht ist es das, was gerade am meisten gebraucht wird und am schwierigsten zu erreichen ist. Ich habe die 1990er Jahre als junger Mann erlebt, der alles ironisch sah und es sich zur Aufgabe machte, die Doppelbödigkeit der Sprache ständig zu hinterfragen und spielerisch damit umzugehen. Heute sehne ich mich nach Klarheit und echten Gefühlen.

Sie haben bereits die Kraft generationenübergreifender Traumata angesprochen. Im Film manifestieren sich diese emotionalen Altlasten in dem Familienhaus. Hat für Sie alles mit dieser Metapher der Risse im Gemäuer begonnen?

Norwegen ist ein Land der extremen Gegensätze, was die Jahreszeiten und Witterungsverhältnisse angeht. Im Winter hat es oft minus 25 Grad Celsius, und im Sommer kann es sehr heiß werden. Wenn man ein Haus baut, muss man also ein gutes Fundament legen. Trotzdem sieht man überall Risse in den Wänden. Als Kind war ich besessen davon. Und als Nora am Anfang diese Hausarbeit schreibt, diesen Aufsatz über das Haus, fand ich es eine interessante Idee: Das Haus zerfällt langsam, als hätte das Gebäude ein anderes Verständnis von Zeit.

Haben Sie das Haus wie eine Figur im Film gecasted?

Auf jeden Fall. Es war schwierig, einen passenden Drehort zu finden, weil ich es liebe, gegen das Licht zu drehen. Aber in den meisten Häusern stößt man dabei ständig auf Wände. Das ist ein echtes Problem. Ich habe in der Hinsicht schon immer Regisseure wie Antonioni sehr bewundert, der ein Meister der räumlichen Darstellung war. Ebenso wie Ozu, beide haben auch perfekt verstanden, wie man Wiederholungen strukturiert.

Noras Vater hat Schwierigkeiten, seine Emotionen auszudrücken und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wie viel Wahrheit steckt in der allgemeinen Annahme, dass nordische Männer verbohrt und verschlossen sind?

In meinen Filmen sind nicht alle Männer so unfähig wie Gustav, einige sind sensibler als andere, aber ich weiß, was sie meinen. Ich denke allerdings, das ist eher eine Generationenfrage als ein kulturelles Klischee. Ich habe zum Beispiel das Gefühl, dass meine Generation besser mit Scheidungen umgehen kann. Und wenn ich an meine Eltern denke, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, tue ich mich schwer damit, die Dinge zu verallgemeinern, aber die steife Oberlippe mancher Männer in dem Alter ist sicher ein Merkmal jener Generation der Überlebenskinder. Typisch skandinavisch ist das nicht.

Nerven Sie solche Klischees?

Ich habe 2018 eine Dokumentation über den norwegischen Künstler Edvard Munch gedreht, oder besser gesagt: über den Entstehungsprozess einer Ausstellung seiner Gemälde, kuratiert vom Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Ich fand es bemerkenswert und auch ein bisschen schade, dass alle immer nur Hysterie und Depression in den Werken sehen. Denn eigentlich ist auch Munch viel mehr: Freude und Sonne, schwimmende Menschen und die Schönheit des Lebens. Er ist alles. Und ich möchte gerne glauben, dass das für jeden von uns gilt, ob Norweger oder nicht.

War Ingmar Bergman eine Inspiration für SENTIMENTAL VALUE?

Ich werde langsam nervös, weil mich so viele Leute danach fragen. Ich verehre Bergmann sehr. Und es ist auf jeden Fall etwas dran an seinem No-Bullshit-Ansatz, sich genau anzusehen, wie die Menschen wirklich sind, und ihnen verdammt nah unter die Haut zu gehen. Andererseits komme ich im Gegensatz zu ihm nicht vom Theater. Ich respektiere die Bühnenkunst, aber ich bin ein Filmregisseur. Seit meiner Kindheit laufe ich mit einer Kamera in der Hand herum. Was ich von Bergmann – und übrigens auch von Dryer – gelernt habe, sind die intensiven Nahaufnahmen, ohne dass man immer alles sieht. Ich würde sagen, das ist eher eine skandinavische Tradition als eine rein bergmannsche Methode. Manchmal spürt man aber eine Abwesenheit in Bergmans Nahaufnahmen, die ich von ihm übernommen habe.

Zum Geburtstag schenkt Magnus Borg seinem kleinen Enkel verschiedene DVDs, darunter DIE KLAVIERLEHRERIN von Michael Haneke und Gaspar Noés IRREVERSIBLE. Seine Auswahl gibt Aufschluss darüber, wie er tickt, wer er ist. Für welche Filme hätten Sie sich entschieden?

Sicher hätte ich eine mehr kindgerechte Auswahl getroffen. Meine älteste Tochter liebt Pixar. Ich muss jedes Mal weinen, wenn ich CARS mit ihr anschaue. Und ich kann durchaus verstehen, warum sie so sehr in FROZEN vernarrt ist. Einer meiner persönlichen Favoriten ist jedoch MEIN NACHBAR TOTORO von Hayao Miyazaki. Ein Meisterwerk. MODERN TIMES von Charlie Chaplin eignet sich ebenfalls recht gut für Kids. Bei anderen seiner Filme muss man vorsichtiger sein. Das kann auch schnell schiefgehen.

Sie haben den Konflikt zwischen Theater und Kino erwähnt, der ein wesentliches Element des Films ist. Wie spiegelt sich diese Spannung in Nora und Rachel wider?

Nora liebt die Bühne. Einmal sagt sie zu ihrer Schwester sinngemäß, dass sie in die Fiktion flüchtet, um sich selbst aus dem Weg zu gehen. Auch Rachel sehnt sich nach der Flucht in eine andere Realität. Sie sieht sich mit dem Problem konfrontiert, mit dem viele Stars zu kämpfen haben: Man wird zur Ware, zu einem Objekt degradiert, mit dem andere Geld verdienen. Das kann selbst Regisseuren und Regisseurinnen passieren. In der Hinsicht sind sie sich beide viel näher, als sie glauben. Sowohl Nora als auch Rachel sind auf der Suche nach Ganzheit, nach Yin und Yang.

Verkörpert Elle Fanning für Sie das neue amerikanische Kino?

Ich brauchte eine amerikanische Schauspielerin. Für mich lebt das Kino von der Wechselwirkung zwischen den Kulturen. Ich spreche hier speziell vom westlichen Kino, mit dem ich aufgewachsen bin. Natürlich gibt es auch darüber hinaus viele Filme, die ich ebenfalls bewundere. Aber mich fasziniert insbesondere die Idee des amerikanischen Genrefilms im Verhältnis zur französischen Nouvelle Vague, sowie die Rückkehr zum New Hollywood der 1970er Jahre und die Dialektik davon.

Nora leidet unter Lampenfieber. Für Regisseure gibt es keinen adäquaten Begriff. Aber wie selbstbewusst sind Sie, wenn Sie morgens ans Set kommen?

Ich habe viel mit Renate darüber geredet. Sie ist in Wirklichkeit auf der Bühne nie aufgeregt. Aber wir beide verspüren diese Angst vor der Darbietung. Es ist eine Mischung aus Zweifel und Selbstvertrauen. Sie ist notwendig, um etwas Wertvolles zu schaffen. Manchmal, wenn ich ins Theater gehe, sehe ich die Live-Performance eines Schauspielers als Metapher für alle Kreativität, denn selbst am Ende eines schlechten Stücks kann ich manchmal meine Tränen nicht zurückhalten, weil ich die Mühe und die Menschlichkeit nachempfinde, mit der hier versucht wurde, dem Publikum etwas Wertvolles, Nachhaltiges darbieten zu wollen. Diese Anstrengung ist der Kern jedes kreativen Impulses. Dafür lebt man als Künstler, ich jedenfalls.

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