Sie haben es bereits angesprochen, im Film geht es um sechs Figuren mit jeweils verschiedenen Sichtweisen. Wie war das für Sie beim Schreiben, immer wieder die Blickwinkel zu wechseln und Gegenpositionen einzunehmen?
Ich hatte zwei Herausforderungen. Einerseits, dass ich versucht habe, jeder Perspektive wirklich gleichermaßen rechtzugeben, aber dabei die Hierarchien nicht unberücksichtigt zu lassen. Denn es gibt Machtverhältnisse, es gibt Rassismus, und ich musste aufpassen, dass ich mich da nicht in meinem Idealismus verliere – oder auch in meiner Wut. Denn darin lag die zweite Schwierigkeit. Es gab eine Figur, bei der ich den meisten Groll verspürt habe: Yiğit. Bei den ersten Drehbuchfassungen hatte ich echt meine Probleme mit ihm, weil er als Migrant dieses Thema gewissermaßen ausnutzt, aber nicht sensibel damit umgeht. Und vielleicht hat auch eine gewisse Klassenwut mitgespielt, weil er einer ist, der es geschafft hat.
Hat Ihnen Ihr eigener moralischer Kompass manchmal beim Schreiben im Weg gestanden?
Als Autor ist es das Schlimmste, wenn man aus irgendeiner Moral heraus Figuren schreibt. Klar, Moral ist enorm wichtig in der eigenen Lebensführung und wie ich mit Menschen umgehe. Aber in einer Kunst, in der ich nach einer Wahrheit suche, darf ich nicht moralisch werden, weil ich mich dann persönlich über die Figuren stelle – und das ist schrecklich eitel, das geht gar nicht.
Ist die Praktikantin Elif diejenige, mit der Sie sich am meisten identifizieren?
Ja, sie erinnert mich an meine erste Zeit an der Kunsthochschule. Wenn man in eine völlig neue Umgebung kommt, ist man erst mal entweder sehr impulsiv oder eher zurückhaltend. Man versucht zu verstehen, in welcher Welt man sich plötzlich bewegt. Diese Phase, in der man sich völlig losgelöst fühlt und mit den eigenen multiplen Identitäten ringt, wollte ich gemeinsam mit Devrim Lingnau nachempfinden. Auch diesen inneren Kampf, einerseits Karriere machen zu wollen, aber gleichzeitig ehrlich zu sich selbst zu bleiben. Oder einerseits die alte Welt zu verteidigen, und anderseits zur neuen Welt dazugehören zu wollen. Das schafft erst mal eine krasse Passivität. Man beobachtet alles und jeden, weil man keinen Fehler machen will und weil man akzeptiert und respektiert werden möchte, zumal als Migrant oder Migrantin. Nur das Problem ist, wenn man alles richtig zu machen versucht, läuft eben auch vieles falsch.
Ist Majid, der in Yiğits Film eine kleine Rolle spielt, vielleicht die widersprüchlichste Figur?
Wahrscheinlich schon, aber auch seinen inneren Konflikt kann ich sehr gut nachempfinden. Auf den ersten Blick denkt man: Der ist Islamist, so ein Radikaler. Aber darum geht es nicht. Er ist nicht unbedingt wütend, sondern eher verletzt und irgendwie kaputt. Aber im Herzen ist er ein guter Typ. Ich habe ihn immer auch ein bisschen wie meinen Vater gesehen, weil er in seiner ganzen Gebrochenheit dennoch versucht hat, ein guter Mensch zu sein.
Einmal sagt Majid sinngemäß zu Elif, für Filme würde es keinen Respekt geben. Empfinden Sie das ähnlich?
Absolut. Und ich sage mal so: Die kritische Haltung gegenüber Medien, vor allem bei Muslimen oder bei Ausländern, entsteht aufgrund der ewigen Stereotypisierung und der Vorurteile. Es herrscht eine enorm große Skepsis gegenüber Medien, weil sie uns immer falsch darstellen. Deshalb hat man als Künstler oder Künstlerin immer eine besondere Verantwortung, und man spürt eine enorme Erwartungshaltung. Als ich meinen ersten Film ORAY geschrieben habe, in dem es um muslimische Jungs in Deutschland geht, hatte ich immer das Gefühl, 1,6 Milliarden Muslime würden mir dabei über die Schulter schauen. Man muss nur Begriffe wie Islam oder Koran in den Mund nehmen und sofort herrscht eine Spannung im Raum.
Geht es dann im Film vielleicht auch weniger um die Macht der Bilder als um die Kraft der Sprache?
Es ist immer ein Wechselspiel. Im ersten Drittel geht es schon sehr um die Macht der Bilder, aber in dem Moment, wo die Figuren alle in einem Raum zusammenkommen, zählt vor allem die Sprache.
Ein Satz, der in HYSTERIA fällt, zielt darauf ab, dass Filme, wie Yiğit sie dreht, lediglich dazu beitragen würden, das schlechte Gewissen Europas zu beruhigen. Ist HYSTERIA bewusst als Gegenpol dazu gemeint?
Ja, weil ich glaube, das stimmt. Viele Filme werden gedreht, nicht um die Missstände zu beseitigen, sondern um sie zu zeigen und zu akzeptieren. Für mich sind das "Gutmensch"-Filme, die auf der richtigen moralischen Seite stehen. Es ist natürlich auch viel einfacher, immer wieder Geschichten über die Ausbeutung von Arbeitskräften in irgendwelchen Großbetrieben zu erzählen, als wirklich die Bedingungen zu verändern. Genauso wenig hilft es, diese Filme zu konsumieren und zu glauben, man sei dadurch irgendwie politisch aktiv oder Teil einer Bewegung. Das ist ein Irrglaube. Ich will, dass Filme dahinführen, dass ich mich selbst hinterfrage, dass ich meine Schwächen, Vorurteile und Ressentiments erkenne. Auch mit Sentimentalität kann ich nichts anfangen. James Baldwin hat das sehr schön beschrieben, dass der sentimentale, der mitleidsvolle Blick eigentlich immer der Blick von oben nach unten ist. Er ist nie auf Augenhöhe. Aber genau darum geht es.