Filmgespräch

Derek Cianfrance über DER HOCHSTAPLER: "Jeff liebte diese Kultur, den Kapitalismus und den Konsum."

Patrick Heidmann

Derek Cianfrance (*1974) drehte mit BLUE VALENTINE (2010) mit Ryan Gosling und Michelle Williams einen der schönsten und traurigsten Liebesfilme aller Zeiten. THE PLACE BEYOND THE PINES (2012) drehte sich um den Motorradstuntman Luke, der entdeckt, dass er ein Kind hat. 2020 schrieb und inszenierte Cianfrance die Miniserie I KNOW THIS MUCH IS TRUE, in der Mark Ruffalo als identische Zwillinge auftritt.

Patrick Heidmann: Mr. Cianfrance, Sie sitzen gerade offenbar in Ihrem Büro, und hinter Ihnen sind mehrere Pinnwände mit verschiedenfarbigen Post-its und zahlreichen Notizen zu sehen. Das sieht fast so aus, als würden Sie nicht nur an einem neuen Film arbeiten, sondern womöglich gleich an mehreren.

Derek Cianfrance: So ist es auch, jede Pinnwand ist ein anderes Projekt. Kennen Sie diese Stände auf amerikanischen Jahrmärkten, wo man mit Wasserpistolen auf kleine Rennpferde schießt – und nur wenn man genau trifft, bewegen sie sich nach vorne? Mit meinen Ideen für neue Filme fühle ich mich immer, als hätte ich fünf oder sechs Pferde gleichzeitig im Rennen und würde alle gleichzeitig mit Wasser beschießen. So lange, bis sich ein Projekt von den anderen absetzt und tatsächlich klar wird: Daraus wird nun wirklich ein Film. Man könnte auch ein anderes Bild heraufbeschwören und sagen, dass ich so lange diverse Pflänzchen gieße, bis mal eine zu blühen beginnt. So oder so bin ich in meinem Beruf mehr damit beschäftigt, Dinge heraufzubeschwören, die es noch gar nicht gibt, als tatsächlich zu drehen.

Die Schwierigkeiten, vor denen Independent-Regisseure in der US-Filmbranche stehen, sind aber nicht der einzige Grund dafür, dass DER HOCHSTAPLER nun Ihr erster Film seit neun Jahren ist, oder?

Nein, denn mit I KNOW THIS MUCH IS TRUE habe ich zwischendurch ja auch eine Fernsehserie gedreht. Was sich übrigens nicht anders anfühlte als die Arbeit an einem Film. Eine Geschichte zu erzählen heißt, eine Geschichte zu erzählen; die Unterschiede in der Arbeit daran hielten sich wirklich in Grenzen. Mit Blick auf Ihre Frage muss ich aber auch sagen: Die Tatsache, dass ich Vater bin und meine beiden Söhne für mich oberste Priorität haben, hat schon lange einen großen Einfluss auf mein Arbeitstempo. Insgeheim habe ich mir fürs Schreiben oft ein wenig mehr Zeit genommen, als vielleicht möglich gewesen wäre, einfach weil ich so viel wie möglich zu Hause sein und mit den beiden Zeit verbringen wollte.

DER HOCHSTAPLER ist Ihr erster Film, der auf wahren Begebenheiten basiert. Was interessierte Sie an der Geschichte des Army-Veteranen Jeffrey Manchester, der Ende der 1990er Jahre mehrere McDonald’s-Filialen ausraubte, verhaftet wurde und dann nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis erstaunlich lange unentdeckt in einem großen Spielzeugladen lebte?

Nach I KNOW THIS MUCH IS TRUE suchte ich nach einer etwas leichteren Geschichte, um ein wenig die Stimmung aufzulockern. Bis dahin hatte ich immer sehr schwere, traurige Filme gedreht, und mit der Serie schloss sich irgendwie ein Kreis, was meine düsteren, seelischen Abgründe anging. Eigentlich bin ich ein sehr optimistischer Mensch, und ich hatte Lust, etwas zu drehen, das die Brücke schlägt zu jener Art von Kino, mit der ich in den Achtziger und Neunziger Jahren aufgewachsen war. Als ich dann von diesem Mann hörte, der McDonald’s-Restaurants ausgeraubt hatte und sich später in einer Toys’R’Us-Filiale versteckte, klang das nach einer Geschichte, die ich in meiner Jugend geliebt hätte.

Manchester sitzt seit seiner abermaligen Verhaftung vor 20 Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis in North Carolina ein …

Richtig, und im Zuge meiner Recherchen gelang es mir, Kontakt zu ihm aufzunehmen, und er begann, mir am Telefon seine Geschichte zu erzählen. Bis heute ruft er mich regelmäßig aus dem Gefängnis an, oft mehrmals die Woche. Aber es war nicht nur, was er und auch seine Familie mir erzählten, das mich an diesem Stoff interessierte. Ich bin im Speckgürtel von Denver aufgewachsen, in dieser Welt der Einzelhandelsketten und Superstores, und habe auch selbst mal in einem Walmart gejobbt. Dieses Milieu sieht man nicht oft auf der Leinwand, und wenn, dann ist der Blick meist ein eher hochnäsiger, verurteilender. Aber Jeff liebte diese Kultur, den Kapitalismus und den Konsum. Nach neun Jahren beim Militär fühlte er sich in der Gesellschaft als Außenseiter. Nur durch das Erlangen materieller Güter spürte er eine Zugehörigkeit, und auch wenn die Mittel, zu denen er dabei griff, natürlich sehr extrem waren, wollte ich diesen Wunsch, dazuzugehören, ganz wertfrei in meinem Film festhalten.

Es ist interessant, dass Sie mit Blick auf DER HOCHSTAPLER von leichterer Kost sprechen. Denn letztlich ist auch Manchesters Geschichte doch eine sehr traurige, oder?

Letztlich ist er der traurige Clown, eine Figur, die ich schon immer geliebt habe. Meine Frau ist auch Filmemacherin und dreht vor allem Komödien, während ich immer Tragödien gemacht habe. Aber irgendwann merkt man ja, dass beides nur Kehrseiten derselben Medaille sind. Meine Hoffnung bei diesem Film war, diese Medaille wie eine Münze in die Luft zu werfen und dabei zuzusehen, wie sie sich wieder und wieder dreht. Zwischen Traurigkeit und Heiterkeit hin- und herzuwechseln, entsprach nicht nur meiner eigenen Persönlichkeit, sondern vor allem auch Jeff. Er ist ein enorm witziger, charismatischer Typ, aber er sitzt eben auch für 45 Jahre im Gefängnis und kann seine Kinder nicht sehen. Er ist ein Krimineller, der sich nach seiner Flucht nicht im Wald versteckt hat, sondern in einem Spielzeugladen. Das allein ist doch schon ein reizvoller Widerspruch, den ich auch im Tonfall der Geschichte einfangen wollte.

Halten Sie sein Strafmaß für unverhältnismäßig?

Er selbst findet, dass er inzwischen seine Strafe eigentlich abgesessen hat. Aber sagen wir es mal so: Er hat zwar niemanden körperlich verletzt, aber natürlich hat er Menschen psychologischen und emotionalen Schaden zugefügt. Selbst die McDonald’s-Mitarbeiter, die er in die Kühlkammer eingesperrt hat und denen er vorher noch warme Jacken gab, hat er sicherlich traumatisiert, schließlich hielt er eine Schusswaffe in ihr Gesicht. So sah es jedenfalls die Richterin, die ihn zu 45 Jahren Haft verurteilt hat – und die übrigens wie viele andere reale Figuren dieser Geschichte einen kleinen Auftritt in meinem Film hat. Ich allerdings halte es eher mit Pastor Ron, in dessen Kirche Jeff die von Kirsten Dunst gespielte Leigh kennenlernte. Er sagt, dass für ihn die wichtigste Botschaft des Neuen Testaments die der Gnade sei. Diese Haltung sollte auch mein Film einnehmen.

Die Hauptrolle in DER HOCHSTAPLER spielt Channing Tatum. Was machte ihn zum richtigen Schauspieler für die Rolle?

Channing ist in meinen Augen jemand, der viel zu wenig Anerkennung dafür bekommt, was er alles kann. Er ist der Lover in etlichen RomComs genauso wie ein Actionstar, ist für viele der witzigsten Komödien-Momente der letzten 20 Jahre verantwortlich und hat in dramatischen Rollen von KIDS – IN DEN STRASSEN NEW YORKS bis FOXCATCHER immer wieder Verletzlichkeit und Ernst bewiesen. Ganz zu schweigen davon, dass er so mutig war, autobiografische Filme über seine Vergangenheit als Stripper zu drehen. Diese Vielseitigkeit ist in gewisser Weise ein Spiegel der vielen unterschiedlichen Facetten in Jeff Manchesters Geschichten.

War es Ihnen, ganz schlicht gefragt, auch wichtig, für die Rolle jemanden zu haben, der mit Leib und Seele Vater ist?

Da ist etwas dran. Dass für ihn nichts auf der Welt wichtiger war als seine Kinder, ist der Kern von Jeffs Geschichte. Und es ist natürlich deren bittere Ironie, dass er seine Taten begangen hat, um seinen Kindern ein besseres Leben bieten zu können, was am Ende die Konsequenz hatte, dass er sie für immer verloren hat. Aber bis heute steht das Vatersein ganz oben auf der Liste der Dinge, die ihn ausmachen. Für mich gilt, wie schon erwähnt, das Gleiche, für Channing ebenfalls. Und auch Kirsten Dunst tickt ähnlich. Nicht dass nicht auch andere ihre Rollen hätten spielen können. Aber dieses Verständnis dafür, wie groß das Bedürfnis ist, die eigenen Kinder zu beschützen und zu versorgen, hat uns alle bei diesem Projekt doch sehr zusammengeschweißt.

Patrick Heidmann

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