INDIEKINO: Monsieur Ozon, erinnern Sie sich noch an das erste Mal, als Sie Albert Camus‘ „Der Fremde“ gelesen haben?
So konkret nicht, aber ich war auf jeden Fall noch Teenager. Als Schüler in Frankreich kommt man an dem Buch bis heute nicht vorbei. Und für viele war und ist es quasi der Roman, mit dem sie das Lesen für sich entdecken. Vermutlich würden viele Menschen in Frankreich sagen, dass es sich bei „Der Fremde“ um ihr Lieblingsbuch handelt. Von meiner ersten Lektüre ist mir vor allem der erste Satz im Gedächtnis geblieben: „Heute ist Mama gestorben.“ Den fand ich damals revolutionär. Und ich erinnere mich noch gut an die Szene am Strand, die erschien mir unglaublich mysteriös.
Waren es diese Erinnerungen, die Sie dazu brachten, den Roman nun neu zu verfilmen?
In gewisser Weise ja. Ich habe ihn dann selbstverständlich noch einmal gelesen und war erstaunt, dass ich ihn immer noch so kraftvoll, rätselhaft und wunderschön geschrieben fand wie damals. Und er ließ mich mit vielen Fragen zurück, was ich als ideale Voraussetzung für eine Verfilmung empfand. Gleichzeitig habe ich lange gezögert, eben gerade weil „Der Fremde“ eines der drei meistgelesenen französischen Bücher auf der ganzen Welt ist. Ich wusste: Wenn ich dieses Meisterwerk auf die Leinwand bringe, werden die Leute mit gezückten Messern auf mich warten!
Vor einigen Veränderungen sind Sie trotzdem nicht zurückgeschreckt. Der Araber, den Meursault umbringt, bleibt nicht namenlos, und Frauenfiguren, die etwas zu sagen haben, kommen in Ihrem Film nun auch vor. Warum war Ihnen das wichtig?
Weil mir beim erneuten Lesen so deutlich ins Auge sprang, wie sehr sich unser Blick auf die Welt verändert hat. Man kann im Jahr 2025 nicht mehr exakt so erzählen, als wären wir immer noch 1942. Zumal das Algerien unter französischer Kolonialherrschaft eine Welt ist, die es nicht mehr gibt. Bei der Lektüre heute war es ein anderer Satz, der sich mir einbrannte: „Ich habe einen Araber getötet.“ Der hat heute in seiner Anonymität etwas Schockierendes, auch wenn ich damit nicht sagen will, dass Camus unbedingt ein Rassist war. Wie übrigens auch Meursault nicht, anders als sein Nachbar Sintès. Camus nutzte Archetypen, um ein System zu beschreiben, und die Welt, in der er groß geworden war. Aber heutzutage wäre es mir mit meinem Wissens- und Erkenntnisstand unmöglich, diese Geschichte auf die gleiche Weise zu erzählen und die arabischstämmige Bevölkerung Algeriens letztlich unsichtbar zu machen. Es brauchte Kontext, um aus heutiger Sicht diese Welt zu verstehen. Was nicht heißt, dass man der Geschichte das Existenzialistische nehmen muss.
Interessanterweise haben Sie die Struktur der Vorlage beibehalten …
Stimmt, genau wie bei Camus ist auch im Film nun die Geschichte in zwei Teile geteilt. Einfacher, oder sagen wir: bekömmlicher für heutige Sehgewohnheiten wäre es vermutlich gewesen, dem Publikum eine griffigere Struktur zu präsentieren, die mehr erklärt. Man hätte mit dem Prozess beginnen und dann mit Rückblenden arbeiten können. Aber dann wäre „Der Fremde“ zu einem Netflix-Film verkommen. Auf so etwas hatte ich absolut keine Lust. Ich liebe die Radikalität, mit der der zweigeteilte Roman erzählt ist. Das wollte ich unbedingt beibehalten, sowohl den sehr sinnlichen ersten als auch den deutlich komplexeren, philosophischen zweiten Teil. Dass so etwas heutzutage letztlich ein Risiko ist und weite Teile des Publikums gerne alles erklärt und mundgerecht serviert bekommen, war mir klar. Doch zur Stärke von Camus’ Text gehört genau das eben zwingend dazu.
Dass man vielleicht nicht alles versteht oder begreift, muss kein Nachteil sein.
Zumindest sehe ich das so. Camus hat ja bewusst nicht erklärt, warum Meursault den Mord begeht, und stattdessen die Absurdität betont. Und auch ich kann selbst nach wiederholter Lektüre nicht sagen, dass ich Meursault als Figur wirklich verstehe. Dazu ist er zu abstrakt, nicht psychologisch gezeichnet. Die Geschichte funktioniert eigentlich nur auf diese Weise. Rational und zu 100 % realistisch kann man sie nicht umsetzen.


