Frau Hadžihalilović, welche Bedeutung hat das Märchen „Die Schneekönigin“ für Sie persönlich?
Lucile Hadžihalilović: Ich bin, wie fast jedes Kind, mit den Geschichten von Hans Christian Andersen aufgewachsen. Das wird niemanden überraschen. Aber „Die Schneekönigin“ war für mich immer schon besonders. Ich kannte sonst keine Erzählung, in der die Hauptfigur ein junges Mädchen ist, das sich auf eine Reise begibt, um einen Jungen zu retten. Ich habe mir damals oft gewünscht, selbst so mutig zu sein wie Gerda. Insgeheim hat mir ihre Geschichte Kraft gegeben.
Aber jetzt haben Sie die Figur des Jungen in Ihrer Adaption komplett herausgenommen?
Ja, denn je älter ich wurde, desto mehr faszinierte mich die Begegnung zwischen dem Mädchen und der Schneekönigin. Ich habe mich gefragt, wer diese Herrscherin in Wirklichkeit sein könnte und wie sich die Begegnung der beiden in der Realität abspielen würde. Dazu kam noch ein anderer Gedanke: Am Ende des Märchens findet Gerda das Schloss der Schneekönigin und sie findet Kay, der versucht, das Wort „Ewigkeit“ zu legen. Als Kind habe ich mich lange gefragt, was das bedeutet. Dass es mit dem Tod zu tun hat, wurde mir erst später klar. Es klingt vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber die Erkenntnis hat mich auf eine Weise erwachsen gemacht.
Sie haben Andersens Märchen auch dadurch transformiert, dass Sie anstelle des Zauberspiegels eine Kameralinse eingesetzt haben.
In der Originalversion gibt es ein wunderschönes Bild von dem Spiegel, der vom Teufel hergestellt wurde und die Welt verzerrt darstellt. Als er zerbricht, fallen seine Scherben in die Augen und Herzen der Menschen. Die Vorstellung hat mich komplett in den Bann gezogen. Beim Gedanken an eine mögliche Adaption kam mir sofort die Idee, Kinoleinwände und Objektive anstelle des Spiegels zu verwenden, was mich schließlich dazu inspiriert hat, einen Film innerhalb des Films zu drehen – und damit auch einen Film über das Kino zu machen. Denn das Kino als Kunstform vermittelt uns ein verzerrtes Bild der Realität, sei es positiv oder negativ.
HERZ AUS EIS reiht sich nahtlos in Ihr bisheriges Werk, das stets auf mysteriösen Geschichten basiert. Woher kommt Ihre Leidenschaft für das Rätselhafte und Unergründliche?
Ich bin zwar in Lyon geboren, habe meine Jugendzeit in den 1970er Jahren jedoch in Casablanca in Marokko verbracht. Als ich alt genug war, um allein ins Kino zu gehen, liefen dort viele Giallo-Filme, und ich war total fasziniert, weil sie nicht nur toll in Farbe gedreht, sondern voller Emotionen und schöner Frauen waren, gleichzeitig aber auch sehr beängstigend, sehr düster und sehr geheimnisvoll. Das hat mich unheimlich beeindruckt. Auf mich wirkten die Filme ein Stück weit wie eine Fortsetzung der Geschichten, die mir meine Mutter als Kind immer vorgelesen hat. Nun ist „Die Schneekönigin“ gar nicht so düster und gewalttätig wie andere von Andersens Märchen. Aber wenn Sie sich einige von seinen Erzählungen anschauen, sind diese selbst für Erwachsene harter Tobak.
Ihren Film haben Sie dennoch recht düster angelegt. Oder sehen Sie das nicht so?
Nein, eigentlich nicht. Natürlich durchlebt Jeanne eine sehr schwierige Erfahrung. Sie begibt sich auf eine nächtliche Reise, daher ist es automatisch dunkel, aber ihr Weg hält auch Freuden und Schönheit bereit. Zudem ist das Ende relativ offen gehalten: Sie befreit sich auf eine Weise – oder nicht, weil sie vielleicht die Gefangene ihrer eigenen Fantasie ist.


