Filmgespräch

Regisseurin Lucile Hadžihalilović über HERZ AUS EIS: "Das Geheimnisvolle oder Seltsame soll aus sehr vertrauten Dingen entstehen."

In ihren Filmen schafft Lucile Hadzihalilovic (*1961) Welten, die weniger eine Kopie der Realität darstellen, als dass sie Bewusstseinszustände vorführen, in denen sich die Realität spiegelt. HERZ AUS EIS (La tour de glace) wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für „Outstanding Artistic Contribution“ ausgezeichnet.

Frau Hadžihalilović, welche Bedeutung hat das Märchen „Die Schneekönigin“ für Sie persönlich?

Lucile Hadžihalilović: Ich bin, wie fast jedes Kind, mit den Geschichten von Hans Christian Andersen aufgewachsen. Das wird niemanden überraschen. Aber „Die Schneekönigin“ war für mich immer schon besonders. Ich kannte sonst keine Erzählung, in der die Hauptfigur ein junges Mädchen ist, das sich auf eine Reise begibt, um einen Jungen zu retten. Ich habe mir damals oft gewünscht, selbst so mutig zu sein wie Gerda. Insgeheim hat mir ihre Geschichte Kraft gegeben.

Aber jetzt haben Sie die Figur des Jungen in Ihrer Adaption komplett herausgenommen?

Ja, denn je älter ich wurde, desto mehr faszinierte mich die Begegnung zwischen dem Mädchen und der Schneekönigin. Ich habe mich gefragt, wer diese Herrscherin in Wirklichkeit sein könnte und wie sich die Begegnung der beiden in der Realität abspielen würde. Dazu kam noch ein anderer Gedanke: Am Ende des Märchens findet Gerda das Schloss der Schneekönigin und sie findet Kay, der versucht, das Wort „Ewigkeit“ zu legen. Als Kind habe ich mich lange gefragt, was das bedeutet. Dass es mit dem Tod zu tun hat, wurde mir erst später klar. Es klingt vielleicht ein bisschen hochgegriffen, aber die Erkenntnis hat mich auf eine Weise erwachsen gemacht.

Sie haben Andersens Märchen auch dadurch transformiert, dass Sie anstelle des Zauberspiegels eine Kameralinse eingesetzt haben.

In der Originalversion gibt es ein wunderschönes Bild von dem Spiegel, der vom Teufel hergestellt wurde und die Welt verzerrt darstellt. Als er zerbricht, fallen seine Scherben in die Augen und Herzen der Menschen. Die Vorstellung hat mich komplett in den Bann gezogen. Beim Gedanken an eine mögliche Adaption kam mir sofort die Idee, Kinoleinwände und Objektive anstelle des Spiegels zu verwenden, was mich schließlich dazu inspiriert hat, einen Film innerhalb des Films zu drehen – und damit auch einen Film über das Kino zu machen. Denn das Kino als Kunstform vermittelt uns ein verzerrtes Bild der Realität, sei es positiv oder negativ.

HERZ AUS EIS reiht sich nahtlos in Ihr bisheriges Werk, das stets auf mysteriösen Geschichten basiert. Woher kommt Ihre Leidenschaft für das Rätselhafte und Unergründliche?

Ich bin zwar in Lyon geboren, habe meine Jugendzeit in den 1970er Jahren jedoch in Casablanca in Marokko verbracht. Als ich alt genug war, um allein ins Kino zu gehen, liefen dort viele Giallo-Filme, und ich war total fasziniert, weil sie nicht nur toll in Farbe gedreht, sondern voller Emotionen und schöner Frauen waren, gleichzeitig aber auch sehr beängstigend, sehr düster und sehr geheimnisvoll. Das hat mich unheimlich beeindruckt. Auf mich wirkten die Filme ein Stück weit wie eine Fortsetzung der Geschichten, die mir meine Mutter als Kind immer vorgelesen hat. Nun ist „Die Schneekönigin“ gar nicht so düster und gewalttätig wie andere von Andersens Märchen. Aber wenn Sie sich einige von seinen Erzählungen anschauen, sind diese selbst für Erwachsene harter Tobak.

Ihren Film haben Sie dennoch recht düster angelegt. Oder sehen Sie das nicht so?

Nein, eigentlich nicht. Natürlich durchlebt Jeanne eine sehr schwierige Erfahrung. Sie begibt sich auf eine nächtliche Reise, daher ist es automatisch dunkel, aber ihr Weg hält auch Freuden und Schönheit bereit. Zudem ist das Ende relativ offen gehalten: Sie befreit sich auf eine Weise – oder nicht, weil sie vielleicht die Gefangene ihrer eigenen Fantasie ist.

Visuell kommt die Mehrdeutigkeit der Geschichte sowohl durch Ihren Umgang mit Licht und Schatten zum Ausdruck als auch durch das Sounddesign. Oder besser: die Stille zwischen den Dialogen.

Wir haben bewusst daran gearbeitet, so wenige Effekte wie möglich zu verwenden. Die Postproduktion war hart, weil wir beim Ton immer wieder reduziert haben, um nur die wirklich wesentlichen Geräusche zu behalten. Dadurch entsteht ein Gefühl der Befremdlichkeit, auch wenn man nicht wirklich versteht, warum. Der Soundtrack sollte die Emotionen der Figuren widerspiegeln, fast ausschließlich auf psychischer Ebene greifen, aber mit sehr minimalistischen Elementen, um so viel Spannung wie möglich hineinzubringen.

Ähnlich wie Ihre früheren Werke ist auch HERZ AUS EIS ein intensives sensorisches Erlebnis. Sehen Sie das Kino als ein immersives Erlebnis?

Auf jeden Fall, und ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass man Filme, nicht nur meine eigenen, unbedingt immer im Kino sehen muss. Ein gemeinsames Kinoerlebnis ist wie ein Wachtraum im Dunkeln. In diesem Sinn ist auch HERZ AUS EIS eine emotionale, ja, eine körperliche Erfahrung mit Ton und Bild, die es zu durchleben gilt, um sie zu verstehen. Und das Schönste ist, dass jeder von uns etwas anderes in dem erkennt, was er sieht und hört.

Warum haben Sie die Handlung in die 1970er Jahre zurückverlegt? Wäre sie heute nicht genauso gut denkbar?

Ich denke, dass die Faszination, die ein Filmset ausmacht, mit glamourösen Stars und dem ganzen Drum und Dran, damals noch viel stärker war. Christina ist in einem System gefangen, das viel strenger und härter mit Schauspieler*innen umgeht – und in gewisser Hinsicht zerbricht sie daran. Natürlich ist Hollywood heute auch eine brutale Maschinerie, keine Frage. Aber damals war die Vorstellung von einer Filmdiva noch ausgeprägter. Für mich ist Christina diejenige, die in Wahrheit die Macht hat, und nicht etwa der Regisseur.

Was hat Sie dazu inspiriert, Gaspar Noé als Regisseur zu besetzen?

Ich fand es eine amüsante Pointe, einen echten Filmemacher in der Rolle zu sehen. Michael Powell und Mario Bava sind tot, so kam ich zunächst auf Guillermo del Toro, weil er auch ein großer Märchenfan ist. Aber es wäre logistisch zu kompliziert gewesen. Es waren zu viele Drehtage, und seine Figur hat eigentlich nichts zu tun. Gaspar war mein zweiter Gedanke, weil er physisch durchaus auch als ein italienischer Regisseur aus den 1970er Jahren durchgehen könnte. Er war auch sehr glücklich über die Perücke, die er im Film trägt.

Wie Ihre früheren Filme ist HERZ AUS EIS ebenfalls sehr stark in der Natur verankert, nur dass diesmal Wasser zu Schnee wird.

Genau. Schwer zu sagen, warum ich mich so sehr zum Wasser hingezogen fühle. Vielleicht, weil es zumindest in meinen Augen ein wunderbar filmisches Element ist. Außerdem hatte ich das Glück, an einem Ort aufzuwachsen, an dem ich Zugang zum Meer, zur Kraft der Wellen und zum Wald hatte. Und in Marokko gibt es auch Schnee. Für mich fühlt es sich natürlich an, in meinen Filmen diese Verbindung zum Wasser zu spüren, egal, ob direkt oder abstrakt oder expressionistisch. Manchmal fällt es mir leichter, Emotionen mithilfe der Natur auszudrücken.

Ihre Filme funktionieren oft wie eigene, in sich geschlossene Mythen. Ich denke zum Beispiel an EVOLUTION, in dem Sie einfache Elemente benutzen, die immer wiederkehren: das Dorf, eine bestimmte rote Farbe, einen Seestern.

Ich beginne immer gerne mit etwas sehr Realem, und das Geheimnisvolle oder Seltsame soll aus sehr vertrauten Dingen entstehen. Das Bild eines Kindes, das am Strand mit einem Seestern spielt, ist uns vertraut, aber wenn man den Seestern genau betrachtet, denkt man: „Was ist das für ein Monster?“

Sie haben zuvor den sicheren Raum erwähnt, in dem sich Märchen besser verfilmen lassen. Spielen Ihre Geschichten auch deshalb immer zwischen Traum und Realität, um nicht an der Wirklichkeit gemessen zu werden?

Wenn man einen Film dreht oder ein Bild malt, kann das, was daraus entsteht, nur hyperrealistisch sein. Ein Werk, ob Dokumentation oder Fiktion, ist immer irgendwie unecht, aber es handelt sich im besten Fall um eine gute Imitation, die auf einer eigenen Wahrheit beruht. In der Unechtheit findet sich ihre Glaubwürdigkeit. Vielleicht ist es sogar die einzig wahre Wahrheit, die es gibt. In dem Streben danach liegt für mich das Geheimnis der Kunst. Es ist eine ewige Suche – und eine Flucht.

Relevante Filme

Tipp von Tom

Herz aus Eis

‘Lucile Hadzihalilovic erzählt in immer neuen Rahmungen und Doppelungen von der Sehnsucht nach einem Herz aus Eis. ’

Läuft ab Donnerstag

Neueste Beiträge