Filmgespräch

Regisseurin Eva Victor über SORRY, BABY: "Sind wir nicht alle nur ewige Kids in erwachsenen Körpern?"

Eva Victor (they/she) wurde 1994 in Frankreich geboren und wuchs in San Francisco auf. Victor begann ihre Karriere bei der feministischen Satire-Webseite reductress.com und wurde als Comedian über Twitter und ihre Videos für Comedy Central bekannt – unter anderem spielt sie eine gestresste Büroangestellte in der Sketchserie „Eva vs. Anxiety“. SORRY, BABY ist ihr Spielfilmdebüt.

Pamela Jahn: Frau Victor, was macht für Sie eine gute Freundschaft aus?

Eva Victor: Ganz spontan fallen mir zwei Dinge ein: Erstens, dass sie oder er wirklich gut zuhören kann, und zweitens, dass der- oder diejenige bereit ist, sich auch in komplizierte und schmerzhafte Situationen des anderen tief hineinzuversetzen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Meine beste Freundin weiß ganz genau, dass alles, womit sie zu kämpfen hat, auch irgendwie mein Problem wird, zumindest empfinde ich das so. Wir arbeiten zusammen wie zwei Detektive, um einen Weg aus dem Dunkel – oder sei es nur ein kleines Dilemma – herauszufinden. Damit einher geht ein enormes Gefühl der Sicherheit – einfach zu wissen und zu spüren, dass man nicht allein ist auf der Welt.

Der Film begleitet Ihre Figur Agnes, die mit einer posttraumatischen Störung kämpft, nachdem sie von ihrem Literaturprofessor sexuell missbraucht wurde. Was hat Sie dazu bewogen, diese Figur zu schreiben und zu spielen?

Was Agnes durchmacht, ist eine sehr persönliche Geschichte – auch für mich, aber was Agnes erlebt, ist fiktionalisiert. Ich sehe ihre Figur als eine Version von mir selbst, die sich von meiner Person und meinem Charakter unterscheidet. Agnes ist zum Beispiel sehr direkt, sie sagt, was sie denkt, auch wenn sie damit bei anderen Menschen aneckt. Ich bin das genaue Gegenteil. Insgeheim wünschte ich mir, ich wäre mehr wie sie. Trotz der emotionalen Achterbahnfahrt, die ich beim Schreiben durchlebt habe, hat es mir große Freude bereitet, mich in Agnes' Haut hineinzuversetzen und Dinge zu tun, die ich mir sonst nie erlauben würde: wenn sie etwa ein streunendes Kätzchen bei sich aufnimmt oder überlegt, Deckers Büro in Brand zu stecken. Ich finde es großartig, wie intensiv sie fühlt und wie impulsiv sie agiert.

SORRY, BABY ist trotz des schwierigen Themas kein schwerfälliges Drama. Hat Ihre bisherige Karriere im Comedy-Bereich den Ton für das Drehbuch vorgegeben?

Ich weiß gar nicht, wie man ein Drama schreibt. Darüber habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht. Für mich ist die Erfahrung, die Agnes zu verarbeiten hat, so surreal, dass vieles einfach automatisch absurd erscheint. Ihre Welt ist verdreht, sie hat die Orientierung verloren. Fast jeder kennt doch das Gefühl, wenn man sich wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlt und verzweifelt versucht, im Leben wieder einen Sinn zu finden. Da entstehen komische Momente oft aus der inneren Verzweiflung heraus. Und noch ein Punkt ist wichtig: Der Film zeigt auf überspitzte Weise mit dem Finger auf Menschen in Machtpositionen, die entweder gewalttätig oder einfach nur ignorant sind.

Sie vermeiden es bewusst, jegliche Gewalt zu zeigen, die mit dem Übergriff einhergegangen sein könnte oder auch nicht.

Die Idee war, einen Film über die Heilung eines sexuellen Traumas zu machen und nicht über den brutalen Akt selbst. Ich habe das Drehbuch zu einer Zeit geschrieben, in der ich für mich einen Film brauchte, der mir persönlich wieder Halt gab. Es fiel mir damals sehr schwer, mir irgendetwas anzusehen, das auch nur im Entferntesten mit dem Thema zu tun hatte. Was manchmal nicht ausreichend gewürdigt wird, ist, dass nicht nur der Übergriff an sich grausam ist, sondern auch die verlorenen Jahre danach.

Während Agnes mit ihrem Trauma ringt, scheint Lydia mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Ging es Ihnen mit Ihrem Freundeskreis ähnlich?

Es ist schon seltsam, wenn man sich eines Tages umschaut und feststellt, dass alle irgendwie einen Plan haben, außer man selbst. Wenn man das Gefühl hat, das Leben rast an einem vorbei – in dieser Hinsicht sind Agnes und ich uns sehr ähnlich. Aber anders gefragt: Sind wir nicht alle auch irgendwo nur ewige Kids in erwachsenen Körpern, die irgendeinem Lebensentwurf nacheifern, nur weil wir denken, das ist normal, das muss so sein? Ich finde es spannend zu beobachten, wie unterschiedlich Menschen mit dieser Erfahrung umgehen. Und natürlich ist es schön, wenn man für sich selbst eine solche Bestimmung findet. Aber Agnes befindet sich in einer Situation, in der sie die Zukunft nicht sehen kann. Die Frage, die sie sich stellt, ist höchstens, was sie heute zu Mittag essen wird, und nicht, wie ihre nächsten fünf Jahre aussehen.

Sie sind früher als Stand-up-Comedian aufgetreten. SORRY, BABY ist ein Projekt, das während der Pandemie entstanden ist. Hat diese Erfahrung Sie zu einem ernsteren Menschen gemacht?

Ich war schon immer ernst, das hat damit nichts zu tun. Die meisten Komiker*innen sind privat sehr nachdenkliche Menschen. Sie nutzen Humor lediglich als Mittel zum Zweck. In Wirklichkeit geht es bei dem Format darum, öffentlich über alltägliche Beobachtungen und gesellschaftspolitische Themen zu sprechen. Menschen, die Witze schreiben und auf der Bühne darbieten, streben danach, unbequeme Wahrheiten offenzulegen, die meistens ziemlich schmerzhaft sind.

Wie haben Sie die Pandemie erlebt?

Ich habe hauptsächlich tragische Filme angeschaut. Nicht sehr hilfreich, ich weiß. Aber trotzdem war es für mich genau das. Denn ich habe dabei auch eine gewisse Leichtigkeit verspürt. Sie kennen das sicher auch, wenn man keine andere Wahl hat, als zu lachen, obwohl einem eigentlich zum Heulen zumute ist. Es klingt abgedroschen, aber Humor findet sich in den dunkelsten Ecken. Und ich mag die wirklich traurigen Momente genauso gerne wie die lustigen, weil sie beide gleich schwer zu begreifen sind.

Seit der Premiere beim Sundance Film Festival wird Ihr Film überall gefeiert. Sie reisen von einem Festival zum nächsten. Wie geht es Ihnen mit dem Erfolg?

Für mich hat diese Erfahrung emotional ihre Höhen und Tiefen. Es ist natürlich aufregend, wie viele Menschen den Film gesehen haben. Es bedeutet mir auch viel, auf diese Art und Weise Anerkennung zu finden. Aber was wirklich toll und wichtig ist, ist, dass es Menschen gibt, die den Film sehr intuitiv wahrnehmen – sie achten nicht auf die filmische Umsetzung, sondern fühlen sich gesehen und verstanden. Das ist für mich so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels.

Glauben Sie an die therapeutische Kraft des Kinos?

Manchmal schon. Heilung erfolgt nicht linear. Es ist nicht so, dass mit jedem neuen Tag alles ein bisschen besser wird. Das Leben ist komplex und kompliziert. Die verschiedensten Konflikte, Katastrophen und Glücksmomente kommen unerwartet und selten mit Vorankündigung auf einen zu. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, was ich während der Dreharbeiten zu diesem Film empfunden habe.

Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, diese sehr persönliche Rolle zu spielen?

Es war eine ganz besondere Erfahrung, mich selbst als Schauspielerin zu inszenieren. Ich musste meinem Körper vermitteln, wohin er in einem meiner dunkelsten Momente gegangen war. Aber dieses Mal hatte ich die Kontrolle über die Situation. Nur das Problem ist, dass die Aufgabe eines Schauspielers genau darin besteht, loszulassen, also die Kontrolle abzugeben. Innerhalb dieses Spannungsfelds habe ich mir während der Dreharbeiten einen sicheren Ort geschaffen. Ich empfand eine große Euphorie der emotionalen Befreiung, weil ich mich sicher fühlte. Ich war endlich wieder ganz bei mir.

War es von Anfang an klar, dass Sie die Hauptrolle spielen würden, oder war das eher eine Notwendigkeit?

Es war meine bewusste Entscheidung. Ich hatte lange Zeit in einer Fernsehserie mitgespielt, und ich wollte endlich eine Rolle spielen, die meine eigenen Worte spricht. Um ehrlich zu sein, als ich das Drehbuch schrieb, hätte ich nie gedacht, dass der Film tatsächlich gedreht werden würde. Ich habe, so wie Agnes, nicht über die Zukunft nachgedacht. Es war eher so, dass ich das Gefühl hatte, es sei genau das, was ich in dem Moment tun müsse. Für mich. Für niemanden sonst.

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Tipp von Clarissa

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‘SORRY, BABY erzählt warm, witzig und tröstlich von den Bemühungen, aus einer traumatischen Schockstarre zurückzufinden.’

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