DER JUNGE UND DER REIHER war als letzter Film des inzwischen 82-jährigen Anime-Regisseurs Hayao Miyazaki angekündigt. Inzwischen arbeitet Miyazaki, der der Welt unter anderem CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND (2001), PRINZESSIN MONONOKE (1997) und MEIN NACHBAR TOTORO (1988) geschenkt hat und weiterhin auf Computeranimation verzichtet, wohl schon wieder an einem neuen Projekt. Ein Glück.
DER JUNGE UND DER REIHER beginnt in Tokio 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg. Als der 12-jährige Mahito aufwacht, regnet es Feuer, und auch das Krankenhaus, in dem seine Mutter arbeitet, brennt. Mahitos Mutter überlebt die Bombennacht nicht. Ein Jahr später zieht Mahito mit seinem Vater in ein großes Anwesen auf dem Land zu seiner Tante Natsuko, die der Vater geheiratet hat, und die mit einem Geschwisterkind schwanger ist. Vieles ist seltsam in dieser neuen Welt: die langen Gänge des riesigen Hauses, die Schar der kichernden alten Hausangestellten, das dichte Grün des Waldes und der verwunschene, zugemauerte Turm, von dem es heißt, ein verrückter Großonkel habe ihn gebaut. Am seltsamsten ist vielleicht der ungehobelte Graureiher, der Mahito nicht in Ruhe lässt und ihn mit dem Versprechen, seine Mutter sei noch am Leben, in eine Welt lockt, die noch eigenartiger ist als das Gutshaus der Tante. Nichts hier ist, was es zu sein vorgibt, nichts hat Bestand. Die junge Frau, die aussieht wie Mahitos Mutter, löst sich ebenso auf wie der Boden unter seinen Füßen. Wie in einem Traum fließen die Räume ineinander, wird aus einem Palast ein wildes Meer, ein Garten, das Ende der Welt. Aus der Luft droht, wie in Mahitos Tagwelt, Unheil. Eine halbverhungerte Armee aus Pelikanen attackiert ihn und seine Weggefährtin, die tapfere Fischerin Kiriko, und ein Regime von dicken, fleischfressenden Wellensittichen - möglicherweise die bizarrsten Wesen in Miyazakis an bizarren Wesen reichem Universum – patrouilliert durch die Gänge des Turms.
In DER JUNGE UND DER REIHER hat Miyazaki eigene Erlebnisse im Pazifikkrieg zu einer fast frei assoziierten Fantasiewelt verarbeitet. In dieser Welt herrscht, wie in Mahito selbst, eine große Unsicherheit. Immer wieder bricht sich das Feuer aus der traumatischen Bombennacht Bahn, und die alten, weisen Männer im Hintergrund schaffen es nicht länger, die Welt in Balance zu halten. Doch durch alle Zeiten und sich verändernden Welten hindurch trifft Mahito auf Menschen, die ihm in Familienliebe und Freundschaft verbunden sind, und ihm helfen, den Weg zurück in eine Wirklichkeit zu finden, die trägt. Diese Liebe herrscht nicht nur zwischen den Figuren, sie drückt sich auch in Miyazakis klaren, genauen und zarten Zeichnungen aus: Wenn sich Mahito nach seiner Ankunft bei der Tante aufs Bett legt, spürt man das ganze Gewicht der Reise, der neuen Umgebung und der Trauer, das auf dem kleinen Jungen lastet. Wenn der Reiher dann später auf dem Fensterbrett landet, verströmt er aus jeder gespreizten Feder anmaßende Dreistigkeit. (INDIEKINO Magazin, 01/2024)