Filmgespräch

Andres Veiel über RIEFENSTAHL: „Sie wusste sehr gut, wie sie Menschen für sich gewinnen konnte.“

Das Theater und die zeitgenössische deutsche Geschichte gehören zu den Hauptinteressen von Andres Veiel (BLACK BOX BRD, DIE SPIELWÜTIGEN, BEUYS). Für seinen Dokumentarfilm RIEFENSTAHL gewährte ihm die Stiftung Preussischer Kulturbesitz erstmals Zugang zum Privatarchiv der Regisseurin.

Pamela Jahn: Herr Veiel, in Ihrem Dokumentarfilm über Joseph Beuys sagt der Künstler zu Beginn sinngemäß, es ginge bei jeder Art von künstlerischem Austausch immer darum, die inneren Fragen des Gegenübers zu erkennen. Sind Sie mit einem ähnlichen Ansatz an Ihren Film über Leni Riefenstahl herangegangen?

Andres Veiel: Mich haben vor allem zwei Fragen beschäftigt: Wer ist Leni Riefenstahl? Und welche Bedeutung hat sie für die heutige Zeit? Das waren meine Leitmotive, mich überhaupt in diese 700 Kisten Archivmaterial hineinzubegeben. Denn ich wusste schon sehr viel über sie, hatte ihre Filme gesehen. Deshalb kam noch die Frage hinzu: Können wir das scheinbar Bekannte über den Zugang zu ihrem Nachlass anders oder neu erzählen? Das hat deshalb eine so große Rolle gespielt, weil ich ganz früh gemerkt habe, dass wir in der biografischen Erzählung auf eine ziemlich harte Betonwand stoßen. Nämlich, wenn man jetzt mal die klassische Dramaturgie der Heldenreise nimmt: Es gibt keine Entwicklung. Diese Frau verharrt in ihrer Leugnung, in ihrer Verdrängung. Es gibt keinerlei Erlösung, keine Katharsis, nichts. Und das war für mich ein echte dramaturgisches Herausforderung.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe dann gemerkt, dass ich den vertiefenden Erkenntnissprung selbst liefern muss, indem ich diesen Stoff ins Heute bringe. Ziel war, dass Riefenstahl in ihrer permanenten Selbstinszenierung mit all ihren Leugnungen, ihren ständig wiederholten «Fake News», mit der Idealisierung des Starken und Heldenhaften als eine Figur gelesen wird, die aus der Gegenwart, vielleicht sogar aus der Zukunft zu uns spricht.

In diesem Sinne ist die Frage viel persönlicher, nämlich: Wer ist Leni Riefenstall für Sie?

Genau. Hier wird es persönlich, und zwar auf zwei Ebenen. Einmal hat das mit einer privaten Erfahrung innerhalb meiner Familie zu tun. Mein Großvater war kommandierender General im Russlandfeldzug und mir ist immer die Legende mit auf den Weg gegeben worden, dass er nach dem Krieg nicht angeklagt wurde, weil er am 20. Juli 1944, dem Tag des Hitler-Attentats, eingeweiht war und noch in der Nacht den Gauleiter verhaftet hätte. Aber de facto war es so: Er hat nicht den Gauleiter festnehmen lassen, sondern er hat die Informanten sofort der Gestapo ausgeliefert. Zudem hat er sich von Himmler ein Entlastungsschreiben ausstellen lassen, in dem der die stets gute Zusammenarbeit mit meinem Großvater hervorhebt. Diese Erkenntnis was für mich ein Schock und gleichzeitig auch ein Beweis dafür, wie wirkmächtig Legendenbildungen sind und welche Funktion oder Notwendigkeit sie innerhalb einer Familienkonstellation erfüllen. Übertragen auf Riefenstahl ergab sich dadurch folgende Problemstellung, nämlich: Wie finde ich einen Zugang zu ihrer Persönlichkeit, der eine Balance schafft zwischen dem Tribunal – was man sicher veranstalten muss – und einem tieferen Begreifen, wofür die Lüge steht.

Das heißt, es geht darum, nicht bei einer moralischen Verurteilung stehenzubleiben, die relativ einfach herzustellen ist.

Richtig. Sie lügt, sie verdreht Tatsachen, sie hat einen ausbeuterischen Charakter. Im Prinzip sind das alles Dinge, die nicht in allen Schattierungen, aber grundlegend bekannt sind. Stattdessen habe ich beschlossen, mich in die Gefahrenzone zu begeben, dass ich diese Frau verstehen will in ihren Motiven, in ihren Antrieben, in ihren Prägungen, ohne sie damit zu entlasten, ohne sie zu exkulpieren und die Verantwortung kleinzureden nach dem Motto: Jetzt schauen wir doch mal an, welche Gewalterfahrungen diese Frau mitgemacht hat, väterlicherseits sowie mit dem ersten Liebhaber bis zur Vergewaltigung, wenn man ihren Schilderungen glaubt, und schließlich den Übergriffen von Goebbels. Das hat mich natürlich im Persönlichen auch interessiert: Faschismus noch mal anders anhand eines, wenn man so will, Prototyps, zu untersuchen, mit Riefenstahls Biografie als Brennglas.

Prototyp inwiefern?

Dass wir es hier mit einer Frau zu tun haben, deren faschistoide Wurzeln in die preußische Erziehung reinreichen, in diese Generation der „Unbedingten“. Da ist eine Mutter, die sie dazu antreibt, eine Tänzerin, eine Künstlerin zu werden, weil sie es selbst nie geschafft hat. Also dieses bekannte Delegationsverfahren. Und der gewalttätige Vater, der aus ihr einen Jungen machen will, der sie ins Wasser wirft und sie diese Todeserfahrung für sich umdreht, im Sinne von „was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker“. Das sind die Urbilder von der Überlegenheit des Stärkeren und der Verachtung der eigenen Schwäche.

Aber lässt es sich wirklich so einfach erklären?

Es sind keine kausalen, abschließenden Konstruktionen, sondern es sind Angebote. Ich glaube, wenn wir uns der Einordnung verweigern und sagen, sie ist eine Täterin und wir gucken nicht auch auf ihre Geschichte, auf die Prägungen, verstehen wir etwas nicht. Es ist eine Chance anhand dieses Nachlasses darauf zu schauen, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist. Aber nicht im Sinne von Ursache-Wirkung, weil das passiert ist, musste auch das passieren. Es ist natürlich komplizierter. Es gibt viele andere, die eine ähnliche Kindheit hatten, die auch ins Wasser geworfen wurden und trotzdem später keine Filme gemacht haben, die ein Regime feiern, das Menschen nicht nur diskreditiert und ausgrenzt, sondern dann irgendwann auch vernichtet. Andererseits finde ich es interessant, sich zumindest dem anzunähern, was ich die innere Notwendigkeit in der Entwicklung nenne. Das setzt sich ja fort. Sie wird den Schatten dieser Ideologie auch im Nachkriegsdeutschland nicht los, wenn sie einmal sagt: „Das deutsche Volk hat die Anlage dazu, zu Moral, Sitte und Anstand.“ Was mich interessiert hat, war, herauszuarbeiten, an welchem Punkt sie anfängt, ihre Biografie in Legenden neu zu erzählen. Das heißt, diese Mikrostrukturen der Lüge und die Motive dahinter haben mich fasziniert.

Wie sind Sie für sich mit Riefenstahls vehementem Beharren auf der Selbstlüge umgegangen?

Wenn sie zu Beispiel in einem Interview behauptet, er gebe in TRIUMPH DES WILLENS keinerlei Antisemitismus, keinerlei Rassismus. Dann schneiden wir auf eine Szene aus diesem Film, wenn Julius Streicher, der Herausgeber der NS-Hetzblatts „Der Stürmer“, sagt: „Ein Volk, das nichts auf die Reinheit seiner Rasse gibt, geht zugrunde.“ Ich nehme sie also lediglich beim Wort. Sie sagt das eine, ich zeige das andere.

Bemerkenswert im Nachlass sind die unzähligen Mittschnitte von Telefonaten. In besonderer Erinnerung bleiben etwa ihre Gespräche mit Albert Speer.

Ja, die beiden hatten ein sehr wettbewerbliches Verhältnis. Speer war nach seiner Entlassung 1966 ein Star. Man erkennt es schon daran, wie er nach 20 Jahren Haft vom Gefängnis abgeholt wird: Menschenmassen jubeln ihm zu, hunderte Kameras sind auf ihn gerichtet. Er schafft es, sich als der reuige, noble Nazi zu inszenieren, und zwar mit einer unglaublichen intellektuellen Präzision. Er gibt weltweit Interviews und brilliert in den Talkshows mit dem Hitler-Bonus, weil er sagen kann: Ich war nah dran. Ich kann euch die Dinge erzählen, die kein anderer berichten kann. Nebenbei wird er mit seinen Memoiren reich, sie werden zum Bestseller. Sein Lügenkonstrukt ist raffiniert, er räumt eine verschwommene Mitverantwortung für die Verbrechen der NS-Zeit ein, um von der konkreten Beteiligung daran abzulenken. Und Leni Riefenstahl wurde in dieser Zeit nicht einmal dazu befragt. Sie hatte gerade angefangen, erste Aufnahmen von den Nuba im Sudan zu machen, da war aber noch kaum etwas davon publiziert. Sie schaute neiderfüllt auf den Erfolg von Speer. Also ruft sie Speer an und bittet ihn vordergründig um Tipps für ihre eigene Autobiografie, sagt dann aber gleich: „Alle Verlage warten alle darauf.“ Und: „Was? Für ein Interview hast du nur 500 bekommen? Unter 5.000 mache ich es gar nicht.“ Sie wollte siegen, auch gegen Speer.

War es im Endeffekt nicht dumm von ihr, ihren Nachlass quasi so detailliert zu archivieren?

Ich glaube, sie hat nicht verstanden, was sie da genau hinterlässt. Sie hat nicht durchschaut, wie sie sich mit Teilen des Nachlasses selbst belastet. Sonst hätte sie noch viel mehr aussortiert. Das ist merkwürdig, weil sie andererseits einen feinen Instinkt hatte, sich öffentlich zu inszenieren. Sie wusste sehr gut, wie sie Menschen für sich gewinnen konnte. Dafür hatte sie ein unglaubliches Talent, wie man es in der WDR-Talkshow „Je später der Abend“ von 1976 sieht, wo sie die Stimmung um 180 Grad gedreht hat.

Wie erklären Sie sich heute den Erfolg von Leni Riefenstahl?

Es ist genau das, wie sie es geschafft hat, Menschen zu ihren Gunsten zu instrumentalisieren. Das ist eine interessante und sicher auch gefährliche Gabe von ihr gewesen, diese Art der Verführung. Das ist vielleicht auch eine Regiegabe, dass sie gute Leute für sich hat arbeiten lassen, die sie sicher auch ausgebeutet hat.

Hat man damals in der Talkshow dieses Talent ihrerseits unterschätzt?

Es kannte sie niemand. Das muss man fairerweise sagen. Es gab keinerlei Nachkriegsspuren von ihr. Ab 1945 wusste man über diese Frau wenig bis gar nichts. Und über die Zeit davor hat sie sich öffentlich bis dahin nicht geäußert, weil es niemand wissen wollte, keiner stellte kritische Fragen. Das Land hatte genug von seiner Schuld. Die Talkshow war der erste Versuch einer öffentlichen Konfrontation. Der Moderator war aber nicht vorbereitet. Heutzutage würde es ein Team an Leuten geben, die den Moderator briefen. Das gab es damals nicht. Aber es gab eine Frau Kretschmer in der Sendung, die viele unbequemen Fragen an Riefenstahl stellte, was zuvor noch niemand gewagt hat.

Wie stellt man sich als Regisseur nicht nur Riefenstahl als Person, sondern auch ihrer Ästhetik formal entgegen?

Das war eine sehr schwierige Suche. Die Editoren und ich hatten Anfang 2021 von der Produktion vier Monate zur Verfügung, wir nannten das „Proof of Concept“, wo wir verschiedene formale Annäherungsformen untersucht haben. Die große Herausforderung bestand darin, dass wir 50 Stunden Telefonate und Interviews als Audio-Material zur Verfügung hatten. Wie illustriert man das? Was zeigt man auf der Bildebene?

Was haben Sie ausprobiert?

Es gab verschiedene Ideen: Graphic Novel oder Rotoskopie-Animation, wie in WALTZ WITH BASHIR. Wir haben es auch mit Comiczeichnungen versucht, also Riefenstahl mit Sprechblasen. Eine Ironisierung. Aber uns war ziemlich bald klar, dass wir mit einer kommentierenden Bebilderung nicht weiterkommen. Daraufhin habe ich versucht, eine fiktive Autorenfigur zu schaffen, wie ein alter ego von mir, und Riefenstahl per Avatar zu reanimieren, um in eine unmittelbare Auseinandersetzung mit ihr einzutreten. Das heißt, der Versuch war, sie mit all ihren Widersprüchen und Lügen zu konfrontieren, um dann etwas Neues zu erfahren, nicht nur Abwehr. Ich habe 30-Seiten-Dialog geschrieben und hatte große Freude daran. Es war wie ein humorvoller, manchmal auch durchaus ironischer Befreiungsschlag.

Warum haben Sie schließlich auch diesen Ansatz verworfen?

Weil ich im Frühjahr 2022 mit dem Schock des Ukrainekrieges gemerkt habe, dass die Bildästhetik von Riefenstahl eine Renaissance erfährt. Denken Sie nur an die Bilder von der Parade in Moskau am 9. Mai 2022 oder an die Eröffnung der Winterolympiade in Peking - in beiden Fällen unmittelbare Referenzen an TRIUMPH DES WILLENS und OLYMPIA. Als ich das gesehen habe, war mir bewusst, dass ich mir einen derart spielerischen Zugang, der auf Humor und Frechheit und Absurdität baut, nicht mehr erlauben kann.

Worin lag Ihrer Meinung nach Riefenstahls größte Stärke als Regisseurin?

Sie war keine gute Geschichtenerzählerin, sie war eine miserable Drehbuchautorin. Man sieht es beispielsweise in TIEFLAND. Immer wenn sie allein geschrieben hat, wurde es kitschig, mit blutleeren Figuren und dann auch noch schlecht gespielt. Der Film ist ein Desaster. Nur in der reinen Montagearbeit war sie großartig. Und sie war eine gute Regisseurin in der Auswahl ihres Teams. Sie hat die besten Kameraleute für sich arbeiten lassen.

Hatten Sie Bedenken, wie viele Ausschnitte aus TRIUMPH DES WILLENS und OLYMPIA Sie zeigen sollten?

Nein. Man muss die Filme zeigen. Sie und ich, unsere Generation, wir kennen das alles natürlich. Aber mein Sohn ist 26, der kennt sie nicht. Das muss man ganz klar sagen. Es ist eine nie befriedigende Gradwanderung, den Film so zu machen, dass er Menschen berührt, die sich schon mit Riefenstahl beschäftigt haben, und gleichzeitig auch diejenigen abholt, die wenig Vorwissen haben. Das heißt, in der Montage mit der Pinzette zu arbeiten: An einer Stelle brauchen wir ein erklärendes Insert. Woanders verzichten wir darauf und gehen ins Risiko, dass wir vielleicht manche überfordern.

Wann ist ein Dokumentarfilm für Sie persönlich gelungen?

Mein Ziel ist immer, dass auch ein Mensch, der sich noch nicht so stark mit dem jeweiligen Thema beschäftigt hat, sei es bei Riefenstahl, Josef Beuys oder die RAF, danach ein Eigeninteresse entwickelt. Für mich ist die RAF Teil meiner Jugenderfahrungen. Ich war bei den Prozessen in Stammheim dabei, als 15-Jähriger. Das hat mich elektrisiert. Ich wollte Teil dieser Erfahrung werden. Und für mich war es selbstverständlich, dass ich bei BLACK BOX BRD und später auch bei WER WENN NICHT WIR, entsprechend viel Wissen voraussetze. Ein Wissen, dass Menschen, die den deutschen Herbst nicht miterlebt haben, gar nicht haben können. Die Entführung von Hanns-Martin Schleyer, dessen Ermordung 1977, die toten RAF-Terroristen von Stammheim, diese ganze Debatte über Mord oder Selbstmord, wie auch immer. Es sind, und da kommen wir an den Anfang unseres Gesprächs zurück, bei jedem Film die gleichen Fragen: Für wen mache ich das? Wen verliere ich? Langweile ich andere, die vermeintlich zu wenig Neues erfahren? Es ist immer eine Auseinandersetzung, auch mit mir selbst. Da kann ich nur sagen, man kann es nicht allen recht machen.

Ist Ihr Gefühl in Bezug auf Leni Riefenstahl heute ein anderes als vor dem Film?

Ja, definitiv. Durch die Auseinandersetzung mit dem Nachlass wurde mir klar, wie stark Riefenstahl nach dem Krieg der NS-Ideologie noch verbunden geblieben ist. Das andere ist die Schuldfrage. Also, wie viel Schuld erträgt ein Mensch, bevor er daran zerbricht? Oder anders: Ist die Schuld zu groß, als dass sie eingestanden werden kann? Weil die Erkenntnis ist, ich habe für ein Regime Propaganda gemacht, das für den Tod von Millionen von Menschen mit verantwortlich ist, und ich habe es nicht gesehen, nichts dagegen unternommen. Damit muss ich alles, was ich getan habe in diesen zwölf Jahren in Zweifel ziehen - und es bleibt eigentlich nur eine erschütternde Bilanz. (INDIEKINO Magazin, 2024/11)

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