Pamela Jahn: Herr Veiel, in Ihrem Dokumentarfilm über Joseph Beuys sagt der Künstler zu Beginn sinngemäß, es ginge bei jeder Art von künstlerischem Austausch immer darum, die inneren Fragen des Gegenübers zu erkennen. Sind Sie mit einem ähnlichen Ansatz an Ihren Film über Leni Riefenstahl herangegangen?
Andres Veiel: Mich haben vor allem zwei Fragen beschäftigt: Wer ist Leni Riefenstahl? Und welche Bedeutung hat sie für die heutige Zeit? Das waren meine Leitmotive, mich überhaupt in diese 700 Kisten Archivmaterial hineinzubegeben. Denn ich wusste schon sehr viel über sie, hatte ihre Filme gesehen. Deshalb kam noch die Frage hinzu: Können wir das scheinbar Bekannte über den Zugang zu ihrem Nachlass anders oder neu erzählen? Das hat deshalb eine so große Rolle gespielt, weil ich ganz früh gemerkt habe, dass wir in der biografischen Erzählung auf eine ziemlich harte Betonwand stoßen. Nämlich, wenn man jetzt mal die klassische Dramaturgie der Heldenreise nimmt: Es gibt keine Entwicklung. Diese Frau verharrt in ihrer Leugnung, in ihrer Verdrängung. Es gibt keinerlei Erlösung, keine Katharsis, nichts. Und das war für mich ein echte dramaturgisches Herausforderung.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe dann gemerkt, dass ich den vertiefenden Erkenntnissprung selbst liefern muss, indem ich diesen Stoff ins Heute bringe. Ziel war, dass Riefenstahl in ihrer permanenten Selbstinszenierung mit all ihren Leugnungen, ihren ständig wiederholten «Fake News», mit der Idealisierung des Starken und Heldenhaften als eine Figur gelesen wird, die aus der Gegenwart, vielleicht sogar aus der Zukunft zu uns spricht.
In diesem Sinne ist die Frage viel persönlicher, nämlich: Wer ist Leni Riefenstall für Sie?
Genau. Hier wird es persönlich, und zwar auf zwei Ebenen. Einmal hat das mit einer privaten Erfahrung innerhalb meiner Familie zu tun. Mein Großvater war kommandierender General im Russlandfeldzug und mir ist immer die Legende mit auf den Weg gegeben worden, dass er nach dem Krieg nicht angeklagt wurde, weil er am 20. Juli 1944, dem Tag des Hitler-Attentats, eingeweiht war und noch in der Nacht den Gauleiter verhaftet hätte. Aber de facto war es so: Er hat nicht den Gauleiter festnehmen lassen, sondern er hat die Informanten sofort der Gestapo ausgeliefert. Zudem hat er sich von Himmler ein Entlastungsschreiben ausstellen lassen, in dem der die stets gute Zusammenarbeit mit meinem Großvater hervorhebt. Diese Erkenntnis was für mich ein Schock und gleichzeitig auch ein Beweis dafür, wie wirkmächtig Legendenbildungen sind und welche Funktion oder Notwendigkeit sie innerhalb einer Familienkonstellation erfüllen. Übertragen auf Riefenstahl ergab sich dadurch folgende Problemstellung, nämlich: Wie finde ich einen Zugang zu ihrer Persönlichkeit, der eine Balance schafft zwischen dem Tribunal – was man sicher veranstalten muss – und einem tieferen Begreifen, wofür die Lüge steht.
Das heißt, es geht darum, nicht bei einer moralischen Verurteilung stehenzubleiben, die relativ einfach herzustellen ist.
Richtig. Sie lügt, sie verdreht Tatsachen, sie hat einen ausbeuterischen Charakter. Im Prinzip sind das alles Dinge, die nicht in allen Schattierungen, aber grundlegend bekannt sind. Stattdessen habe ich beschlossen, mich in die Gefahrenzone zu begeben, dass ich diese Frau verstehen will in ihren Motiven, in ihren Antrieben, in ihren Prägungen, ohne sie damit zu entlasten, ohne sie zu exkulpieren und die Verantwortung kleinzureden nach dem Motto: Jetzt schauen wir doch mal an, welche Gewalterfahrungen diese Frau mitgemacht hat, väterlicherseits sowie mit dem ersten Liebhaber bis zur Vergewaltigung, wenn man ihren Schilderungen glaubt, und schließlich den Übergriffen von Goebbels. Das hat mich natürlich im Persönlichen auch interessiert: Faschismus noch mal anders anhand eines, wenn man so will, Prototyps, zu untersuchen, mit Riefenstahls Biografie als Brennglas.
Prototyp inwiefern?
Dass wir es hier mit einer Frau zu tun haben, deren faschistoide Wurzeln in die preußische Erziehung reinreichen, in diese Generation der „Unbedingten“. Da ist eine Mutter, die sie dazu antreibt, eine Tänzerin, eine Künstlerin zu werden, weil sie es selbst nie geschafft hat. Also dieses bekannte Delegationsverfahren. Und der gewalttätige Vater, der aus ihr einen Jungen machen will, der sie ins Wasser wirft und sie diese Todeserfahrung für sich umdreht, im Sinne von „was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker“. Das sind die Urbilder von der Überlegenheit des Stärkeren und der Verachtung der eigenen Schwäche.
Aber lässt es sich wirklich so einfach erklären?
Es sind keine kausalen, abschließenden Konstruktionen, sondern es sind Angebote. Ich glaube, wenn wir uns der Einordnung verweigern und sagen, sie ist eine Täterin und wir gucken nicht auch auf ihre Geschichte, auf die Prägungen, verstehen wir etwas nicht. Es ist eine Chance anhand dieses Nachlasses darauf zu schauen, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist. Aber nicht im Sinne von Ursache-Wirkung, weil das passiert ist, musste auch das passieren. Es ist natürlich komplizierter. Es gibt viele andere, die eine ähnliche Kindheit hatten, die auch ins Wasser geworfen wurden und trotzdem später keine Filme gemacht haben, die ein Regime feiern, das Menschen nicht nur diskreditiert und ausgrenzt, sondern dann irgendwann auch vernichtet. Andererseits finde ich es interessant, sich zumindest dem anzunähern, was ich die innere Notwendigkeit in der Entwicklung nenne. Das setzt sich ja fort. Sie wird den Schatten dieser Ideologie auch im Nachkriegsdeutschland nicht los, wenn sie einmal sagt: „Das deutsche Volk hat die Anlage dazu, zu Moral, Sitte und Anstand.“ Was mich interessiert hat, war, herauszuarbeiten, an welchem Punkt sie anfängt, ihre Biografie in Legenden neu zu erzählen. Das heißt, diese Mikrostrukturen der Lüge und die Motive dahinter haben mich fasziniert.
Wie sind Sie für sich mit Riefenstahls vehementem Beharren auf der Selbstlüge umgegangen?
Wenn sie zu Beispiel in einem Interview behauptet, er gebe in TRIUMPH DES WILLENS keinerlei Antisemitismus, keinerlei Rassismus. Dann schneiden wir auf eine Szene aus diesem Film, wenn Julius Streicher, der Herausgeber der NS-Hetzblatts „Der Stürmer“, sagt: „Ein Volk, das nichts auf die Reinheit seiner Rasse gibt, geht zugrunde.“ Ich nehme sie also lediglich beim Wort. Sie sagt das eine, ich zeige das andere.