Filmgespräch

Regisseurin Ina Weisse über ZIKADEN: "Ich gefragt, ob eine echte Freundschaft zwischen den beiden möglich ist. "

Ina Weisse ist 1968 in West-Berlin geboren und arbeitet als Schauspielerin und Regisseurin. Ihren ersten Langfilm als Regisseurin drehte sie 2008. Im Familiendrama DER ARCHITEKT bringt der Tod der Mutter eine scheinbar glückliche Familie zum Zusammenbruch – es stellt sich heraus dass der titelgebende Architekt ein weiteres Kind mit einer alten Liebe hat. In DAS VORSPIEL (2019) steigert sich die Geigenlehrerin Anna in die Prüfungsvorbereitung ihres Schützlings Alexander hinein.

Pamela Jahn: Frau Weisse, Ihr Film ZIKADEN spielt in der brandenburgischen Provinz. Gab es dafür einen bestimmten Grund?

Ina Weisse: Die Gegend ist mir vertraut. Es gibt dort Orte, an denen ich schon lange drehen wollte, wie zum Beispiel die alte Eisenbahnrücke, auf der sich die Frauen kennen lernen. Die Geschichte geht von realen Orten aus und auch von Personen, die mir nah sind, meine Eltern spielen die Eltern von Nina Hoss, aber darüber hinaus ist es natürlich eine fiktive Erzählung.

Empfinden Sie es als eine Art Grenzüberschreitung, die Sie mit dieser Vermischung von Realität und Fiktion begehen?

Nein, gar nicht. Es hilft von etwas auszugehen, dass einem vertraut ist. Und was mich interessiert hat, war die Suche einer anderen, offeneren Arbeitsweise. Vorher kam ich mit einer Geschichte nicht weiter. Ich konnte meine eigenen Plots nicht mehr ertragen. Ich habe dann meine Kamera genommen und bin von einer Figur ausgegangen, von einem Kind. Ich wollte einen Film über das Aufwachsen eines Mädchens drehen, der sich über mehrere Jahre erstreckt. Ich habe dafür verschiedene Kinder gecastet, bis ich schließlich Greta gefunden habe. Dann kam die Mutter dazu, gespielt von Saskia Rosendahl und Nina Hoss, mit der ich unbedingt wieder zusammenarbeiten wollte. Ich fand es spannend, von diesen beiden Frauen zu erzählen, die so unterschiedlich sind in ihrer Herkunft und den Milieus, in denen sie groß geworden sind. Ich habe die Geschichte um sie herum gebaut und mich gefragt, ob eine echte Freundschaft zwischen den beiden möglich ist.

Vielleicht sogar mehr als eine Freundschaft?

Das würde ich offen lassen.

Zumindest werden Anja und Isabell zu Komplizinnen, würden Sie soweit mitgehen?

Absolut. Nur, ob Ninas Figur das am Ende gut findet, ist unklar. Interessant finde ich, dass man beim Zuschauen verschiedene Schlüsse aus ihrem Handeln ziehen kann. Da geht es um das eigene Menschenbild, um die eigene Erfahrung, wie man die Frauen wahrnimmt. Will man, dass diese vier Generationen, die sich da gefunden haben, am Ende zusammenbleiben? Gibt es plötzlich ein Zuhause für Anja? Und inwieweit hat sie sich in diese fremde Familie hineingedrängt? Die Rolle von Saskia ist in der Hinsicht ja auch undurchsichtig.

Was verbindet die beiden Frauen?

Dass sie in einer schwierigen Phase ihres Lebens aufeinandertreffen. Dass sie kämpfen, funktionieren müssen und sich vor allem um andere kümmern und dass sie eine Sehnsucht nach einem anderen Leben haben. Sie suchen ihren Platz, sie ringen um Selbstbestimmung. Sie sind zerrissen, scheu und verletzlich. Auf dieser emotionalen Ebene treffen sie sich. Sie spüren das Verlorensein der anderen. Es geht um Scham, um Stolz und um Würde. Letztlich um Identität.

Was für ein Leben wünscht sich Isabell?

Sie will sie eine gute Architektin sein. Sie wollte im Büro ihres Vaters arbeiten. Aber dann kam sein Schlaganfall dazwischen. Angestrengt von ihren eigenen Ambitionen, arbeitet sie sich an ihrem Vater ab. Sie wollte mit ihrem Mann ein Kind. Aber bestimmte Dinge sind für sie nicht in Erfüllung gegangen. Sie ist unzufrieden mit sich, obwohl es nach außen so scheint, als hätte sie ihr Leben im Griff. Sie will die Kontrolle behalten, aber ihr gleitet alles immer mehr aus den Händen. Es ist die Beschreibung eines Zustands der Unsicherheit. Bei Anja dagegen sind es Kämpfe um ihre Existenz. Es sind Wünsche wie ein eigenes Zuhause, eine passende Arbeit, die ihr auch Zeit mit ihrem Kind lässt.

Ist der Konflikt, nicht zu genügen, unter dem Isabell und Anja leiden, auch ein persönlicher?

Sicher. Ich denke immer, ich könnte es besser machen.

Wie war es für Sie, Ihren Vater und Ihre Mutter in den Film zu integrieren?

Ganz natürlich eigentlich. Ich hatte mit meinem Vater bereits in meinem Dokumentarfilm über die Neue Nationalgalerie zusammengearbeitet, weil er früher als Architekt im Büro von Mies van der Rohe in Chicago gearbeitet hat.
Dafür stellte er mir auch Archivmaterial zur Verfügung, das er damals selbst mit einer Kamera gedreht hat. Er meinte, es seien die einzigen Aufnahmen, die Mies bei der Arbeit zeigen. Es war für uns beide eine gute Erfahrung, diesen Film zu machen. Und als es darum ging, die Eltern in ZIKADEN zu besetzen, dachte ich mir, warum eigentlich nicht.

Wie haben die beiden auf Ihre Idee reagiert?

Meine Mutter war zuerst etwas scheu, aber dann überwog ihr Interesse. Ich hatte sie bei verschiedenen Gelegenheiten in der Vergangenheit immer wieder gefilmt und wusste dadurch, dass sie vor der Kamera unbefangen sein konnte. Bei beiden hat mich nicht die Darstellung der Alltagssituationen interessiert, die im Alter immer komplizierter werden und die sich jeder vorstellen kann, sondern es ging mir vor allem um die psychischen Folgen. Um das Ankämpfen gegen den zunehmenden Verlust von Unabhängigkeit. In der Arbeit führte der schmale Grat zwischen nicht-professioneller Darstellung und Schauspiel zu einer andere Dimension im Zusammenspiel. Es entstand ein freierer Raum, etwas Unverstelltes.

Ihr Film DAS VORSPIEL, in dem Nina Hoss eine als Solistin gescheiterte Geigenlehrerin spielt, wirkt sehr hart und düster. Zikaden dagegen hat bei aller Ersthaftigkeit, dennoch etwas Weiches, Leichtes.

Es ist für mich schwierig, die Arbeiten zu vergleichen. DAS VORSPIEL war viel strenger in der Form. Aber der Witz und die Leichtigkeit in ZIKADEN hingen sicher auch mit den komödiantischen Schauspielern Vincent Macaigne, Thorsten Merten und Alexander Hörbe zusammen. Vincent Macaigne war mir in der DER PRÄSIDENT UND MEINE KINDER von Justine Triet aufgefallen, weil er mit großer Selbstverständlichkeit spielt. Gemeinsam mit meiner Casterin Nina Haun dachte ich sofort, dass er mit Nina Hoss ein interessantes Paar bilden würde.
Unterschiedlich, mit einer unterdrückten Spannung.

Warum war es Ihnen wichtig, dass die Geschichte im Sommer spielt?

Einmal, weil Brandenburg - wie auch Berlin - im Winter etwas Trostloses hat und ich den Kontrast wichtig fand. Jemand stirbt, währenddessen hört man Kinder draußen Fußball spielen. Das Leben geht weiter. Auch die Hitze fand ich richtig. Judith Kaufmann, unsere Kamerafrau, hat versucht der Landschaft eine andere Schönheit abzugewinnen als die offensichtliche. Bei Judiths Bildern gibt es immer noch eine andere, poetische Ebene.

Sie haben erwähnt, dass Sie eigentlich einen Film über ein kleines Mädchen drehen wollten. Jetzt ist es ein Film über das Altern geworden, auch über den Tod.

Über verschiedene Generationen würde ich sagen. Über unterschiedliche Lebensmodelle.

Woher rührte der ursprüngliche Wunsch, ein Kind beim Aufwachsen zu begleiten?

Es sind die Prozesse, die mich interessieren. Ich finde es aufregend, zu sehen, wie Menschen sich verändern.

Haben Ihre Eltern Sie eigentlich von vornherein unterstützt, einem künstlerischen Beruf nachzugehen?

Meine Mutter hat Kunst unterrichtet, sie war immer sehr offen dafür. Ich wollte lange Kinderärztin werden, dann Regisseurin. Aber schließlich bin ich doch auf die Schauspielschule und anschließend direkt ans Theater gegangen, bis ich gemerkt habe, dass ich mit den Strukturen, die dort herrschen, nicht klarkomme. Danach habe ich angefangen Philosophie zu studieren, bin nach Paris gezogen, nach Nepal und Tibet gereist. Es war eine gute, aber komplizierte Zeit. Mit dreißig bin ich nach Hamburg an die Filmhochschule und habe angefangen Regie zu studieren.

Haben Sie selbst Angst vorm Älterwerden?

Nein, ich muss sagen, ich bin manchmal froh, dass ich schon so alt bin und noch lebe. Aber ich fände es schlimm, krank zu werden und dahin zu siechen.

Sie scheinen auch keinen Druck zu verspüren, was Ihre Arbeit angeht. Oder täuscht der Eindruck?

Manchmal wäre ich gerne ein bisschen schneller. Denn vielleicht bleibt einem nicht mehr lange und man weiß es nur nicht. Aber ich brauche einfach Zeit für die Entwicklung der Geschichten. Und zum Glück habe ich mit Felix von Boehm einen Produzenten, der das versteht und mich unterstützt.

Finden Sie es beim Schreiben schwieriger, anzufangen oder zum Ende zu kommen?

Das Ende ist immer kompliziert. Manchmal wünschte ich, es gäbe keins. Nur weil ein Film aufhört, ist das Erzählte ja nicht vorbei. Unsere Geschichte geht bestimmt weiter. Aber was ist das letzte Bild?

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