Filmgespräch

Emilie Blichfeldt über THE UGLY STEPSISTER: "Jede von uns will in den Schuh passen."

Die norwegische Regisseurin Emilie Blichfeldt wurde 1991 „in einem kleinen Dorf oberhalb des Polarkreises“ geboren. Den ersten VHS-Player schaffte die Familie an, als sie 13 war. THE UGLY STEPSISTER, eine Body-Horror-Adaption vom Märchen Aschenputtel, ist Blichfeldts erster Langfilm.

Pamela Jahn: Was hat Sie daran gereizt, das Märchen vom Aschenputtel aus Sicht der Stiefschwester zu interpretieren?

Emilie Blichfieldt: Ich habe mir die Rolle der Stiefschwester nicht ausgesucht. Sie hat mich gefunden. Die Idee kam mir während eines kreativen Powernaps. In meiner Vorstellung sah ich eine junge Frau auf einem Pferd mit dem Prinzen davonreiten. Dann schauten beide nach unten, und Blut tropfte aus ihrem Schuh. Als ich aufwachte, war ich schockiert, mich mit einer Figur zu identifizieren, für die ich zuvor nie Empathie empfunden hatte. Im Gegenteil, ich hatte sie verachtet, verspottet und sogar ausgelacht. Plötzlich konnte ich ihre Scham spüren; die Verzweiflung, einem Schönheitsideal entsprechen zu wollen - und daran zu scheitern. In dem Moment wurde mir klar: Auch ich bin die Stiefschwester, so wie alle anderen. Jede von uns will in den Schuh passen. Und ich habe mich gefragt, warum.

Worin liegt Ihrer Ansicht nach das Problem?

Zum Teil sicher darin, dass wir bisher keine Gelegenheit hatten, die uns kulturell zugeschriebene Frauenrolle wirklich zu dekonstruieren. Gerade wenn es um Schönheitsideale geht, ist man schnell in der Opferfalle, wie Elvira. Jemand sagt dir, dass du hässlich bist. Das führt oftmals zu einer gefährlichen Selbstobjektivierung. Es wird Teil der eigenen Identität. Irgendwann weiß man nicht mehr: Tue ich das für mich? Tue ich das wegen des Drucks von außen? Und wenn man dieses Selbstbewusstsein verliert, wird es gefährlich.

Wie kann man vermeiden, in die Falle zu tappen?

Natürlich sollten Frauen am Ende nicht wie Männer aussehen oder sich wie Männer verhalten. Ich persönlich liebe es, sowohl meine weibliche als auch meine maskuline Seite zu erforschen, in der Art wie ich mich kleide und in der Welt bewege, wie ich mich ausdrücke. Ein weiterer Punkt, den ich für wichtig halte, ist: Was wir im 17. Jahrhundert schön fanden, ist nicht dasselbe wie heute. Schönheitsideale ändern sich ständig, es ist ein Konstrukt.

Die Motive, die in Ihrem Film behandelt werden, stehen in engem Zusammenhang mit Coralie Fargeats THE SUBSTANCE. Sind Sie den Vergleich ein bisschen leid?

Ich habe Verständnis dafür. Und es ist ja schon interessant, dass gerade zwei Frauen gleichzeitig Filme zu diesem Thema drehen. Der entscheidende Unterschied ist: Coralie Fargeat konzentriert sich auf Hollywood und darauf, was es heißt, in diesem System älter zu werden, vor allem wenn man prominent ist. Bei mir geht es um junge Menschen, die ein ganz normales Leben führen. Und obwohl wir beide dieselben filmischen Mittel einsetzen, insbesondere Body Horror, ist die filmische Erfahrung doch eine ganz andere. THE SUBSTANCE ist formalistischer, es gibt diese Distanz zu den Figuren, alles wirkt oberflächlich, es geht nur um den Schein. Ich wollte eine Geschichte erzählen, in dem man mit den Figuren mitfühlt. Vielleicht könnte man es so sehen: THE SUBSTANCE ist wie meine rebellische große Schwester.

Woher kommt Ihre Liebe zum Body Horror?

Ich habe offensichtlich zu viele Filme von David Cronenberg gesehen. Das Besondere an diesem Genre ist, dass es den Geist und den Körper miteinander verbindet. Es erinnert uns daran, dass wir nicht nur intellektuelle Wesen sind. Alles hängt miteinander zusammen. Und Cronenberg setzt sich auf verschiedenste Weise mit diese Idee auseinander, mit viel Humor, Eleganz, Blut und manchmal sogar Philosophie. Das unterscheidet seine Werke von Splatterfilmen.

Ist es nicht auch schwierig, dass Cronenberg immer als der große Meister des Body Horror angesehen wird? Wie findest man da als Regisseurin den eigenen Stil?

Ich glaube, Jim Jarmusch hat einmal gesagt: Stehle, stehle, stehle – aber was auch immer du stielst, mach es zu deinem eigenen. Wir sind ständig inspiriert von äußeren Einflüssen, aber wenn ich Dinge in meinen Kontext stelle, wird daraus etwas anderes. Darüber hinaus finde ich es grundsätzlich schwer, sich aus den Zwängen der klassischen Filmgeschichte zu befreien. Damit meine ich nicht, dass der männliche Blick an sich problematisch ist. Aber seine totale Überrepräsentation ist gefährlich. Als Filmemacherin arbeite ich mit einer Bildsprache, die von Männern geschaffen wurde. Das ist etwas, worüber oft nachdenke. Gleichzeitig versuche ich, mich davon nicht zu sehr beeinflussen zu lassen. Das ist nicht immer einfach.

Gibt es Filmemacherinnen, mit denen Sie sich in dieser Hinsicht identifizieren können?

Ja, ich habe viele männliche Filmemacher übersprungen, die man als essenziell bezeichnen würde. Stattdessen habe ich mich direkt in die Filme von Lynne Ramsay, Andrea Arnold und Agnes Varda gestürzt.

Das sind große Fußstapfen, in die sie nun treten.

Es mangelt mich sich nicht an Ehrgeiz. Das Schwierigste an diesem Film war für mich, dass ich keine Kompromisse eingehen wollte, weder bei den Kostümen noch bei der Besetzung oder den praktischen Effekten, wie den Tanzsequenzen. Nicht einmal bei den Tieren. Es war mir extrem wichtig, dass der Film dieses märchenhafte Gefühl vermittelt. Aber es ist ein europäischer Debütfilm ohne großes Budget, auch wenn es für einen norwegischen Film relativ beachtlich ist. Wir haben weniger als einem Monat lange gedreht, und die Body-Horror-Szenen haben jeweils einen Tag gedauert, genauso wie die Ballsequenz. danach blieben keine zwanzig Tag, um den Rest zu drehen. Es war Wahnsinn.

Es gibt eine Szene, die selbst für Horrorfans intensiv ist. Gab es Überlegungen, wie weit Sie mit der Gewalt gehen wollten?

Ich mag es, wenn sich Leute im Kinositz winden! Die Effekte sind alle praktisch, viszeral. Viele Leute sagen, das sei alles so „retro“, aber mir kam es dabei auf etwas anderes an. Praktische Effekte haben etwas Unheimliches. Die Dinge bewegen sich nicht so flüssig und perfekt wie mit CGI. Es gibt immer kleine Fehler. Das Publikum ist sich sogar bewusst, dass alles Fake ist. Wenn man dagegen VFX verwendet, ist alles zu perfekt. Diese Distanz gibt einem als Zuschauer ein Gefühl der Sicherheit. Ich wollte auch keine Gewalt um der Gewalt willen. Die praktischen Effekte mussten Ideen und Metaphern transportieren und nicht nur dem Schockeffekt dienen.

Es gibt verschiedene Versionen von Aschenputtel in verschiedenen Ländern. Fühlen Sie sich der Grimm-Version am meisten verbunden?

Bei uns in Norwegen ist die tschechische Version aus den 1970er Jahren sehr beliebt, "DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENPUTTEL", die auch in Deutschland jedes Jahr zu Weihnachten im Fernsehen läuft. Das war wirklich eine sehr wichtige Inspiration für mich bei der Wahl des Tons und des etwas düsteren visuellen Stils des Films. Aber klar, ich bin auch mit der Version der Brüder Grimm aufgewachsen.

Sie waren also nie auf Disney fixiert?

Nein, ich hatte ein kleines Pixie-Buch. Kennen Sie die? Alle blutigen Details habe ich daraus – da wurden die Zehen abgeschnitten, auch wenn es keine Illustrationen dazu gibt. Aber das Bild von der Stiefschwester auf dem Pferd mit dem Prinzen und drei großen Blutstropfen, die aus ihrem Schuh tropften, stammt daraus. Dieses Bild muss sich unbewusst in meinem Kopf festgesetzt haben. So kam es in meinem Traum wieder zum Vorschein.

Haben Sie das Gefühl, dass die Disney-Version das widerspiegelt, worüber wir eingangs gesprochen haben?

Ja, auf jeden Fall. Das ist auch der Grund, warum ich etwas völlig anderes machen wollte, um die Beziehung der Menschen zu Märchen zu hacken und ihre Sichtweise auf diese Bilder für immer zu verändern.

Derzeit scheint es einen Trend im Kino zu geben, Figuren aus der Vergangenheit neu zu interpretieren und als vermeintlich böse geltenden Figuren eine neue Stimme zu geben. Was steckt dahinter?

Märchen sind Lektionen fürs Leben, moralistische Geschichten, in denen man die einen lobt und andere verteufelt, um den Kindern Angst zu machen, damit sie verstehen: "So solltet ihr sein und so nicht". Aber die Sache ist, dass es für die meisten von uns nicht so einfach ist, einen Prinzen zu heiraten. Seien wir mal ehrlich.

THE UGLY STEPSISTER wird gern als feministischer Horrorfilm beschrieben. Können Sie sich mit diesem Label anfreunden?

Sicher. Ich glaube, ohne den Erfolg von THE SUBSTANCE wäre es viel schwieriger gewesen, den Film zu vermarkten und die Leute dafür zu begeistern. Aber jetzt scheint das Publikum Geschmack daran gefunden zu haben. Da kommt mein Film gerade zum richtigen Zeitpunkt.

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