Filmgespräch

Im Gespräch mit dem Regie-Trio von TANZ DER TITANEN: „Gehirne haben eine übergroße Bedeutung, aber es gelingt ihnen nicht, ihre Würde zu bewahren.“

Guy Maddin ist für seine surrealen und assoziativen Filme wie THE SADDEST MUSIC OF THE WORLD (2003) oder MY WINNIPEG (2007) bekannt, die Stummfilmästhetik, Psychoanalyse, Dokumentarisches und Fiktion durcheinanderwirbeln. Für TANZ DER TITANEN Hat er sich mit seinen Co-Regisseuren Evan Johnson und Galen Johnson in eine - wenn auch sehr eigenwillige - Gegenwart begeben.

Pamela Jahn: Drei Regisseure für einen Film ist eine ganze Menge.

Guy Maddin: Im Englischen gibt es ein schönes Sprichwort: "The more, the merrier".

Die Redewendung besagt jedoch nicht, dass mehr zwangsläufig besser ist. Hatten Sie in der Hinsicht vorab Bedenken?

Guy Maddin: Nein, es war ein vollkommen natürlicher Prozess. Filmemachen ist ja immer Teamarbeit, und ich finde es wichtig, die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, für ihr Engagement zu würdigen. Ich hatte zum Beispiel jahrelang ein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Cutter John Gurdebeke. Ich dachte mir: Wenn jemand aus Archivmaterial einen Dokumentarfilm zusammenbastelt, wird er als Regisseur bezeichnet. Aber wenn John mein Filmmaterial schneidet, bleibt er der Cutter. Das empfand ich als ungerecht, zumal ich in meinen früheren Filmen ja auch oft viele alte Filmschnipsel verwendet habe. Irgendwann habe ich ihn mal darauf angesprochen. Ich habe ihn gefragt habe, ob er gerne mein Co-Regisseur sein würde. Aber er lehnte dankend ab und meinte, er möchte lieber bezahlt werden. Also habe ich es dabei belassen.

Wie haben Sie drei sich kennengelernt?

Guy Maddin: Ich habe an der Universität in Winnipeg unterrichtet und Evan war einer meiner Studenten, mein bester Schüler überhaupt. Wir sind in Kontakt geblieben. Eines Tages habe ich ihn als meinen Assistenten eingestellt. Aber er hat sich schnell hochgearbeitet, erst zum Researcher, dann zum Drehbuchautor. Schließlich kam auch Galen dazu. Er ist ein unglaublich talentierter Produktionsdesigner und Grafiker. Er hat einen Abschluss in Architektur. Ich merkte, wie viel Spaß es mir macht, gemeinsam Dinge zu entdecken. Ich habe nämlich nicht wirklich viele Freunde außerhalb der Filmwelt.

Verändert sich für Sie durch die Arbeit als Trio die Art und Weise, wie Sie Regie führen?

Guy Maddin: Obwohl wir alle ähnlich denken, auch einen bestimmten Filmgeschmack teilen, gibt es verschiedene Dinge, in denen der eine von uns besser ist als der andere. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich etwas nicht kann, übernimmt entweder Evan oder Galen an der Stelle. Das funktioniert gut. Es gibt uns mehr Möglichkeiten insgesamt und eine gewisse Vielseitigkeit, die mir vorher fehlte.

Eine Detailfrage: Was hat es mit dem riesigen Gehirn im Film auf sich?
Guy Maddin: Nun, es ist genau das, ein großes Gehirn. Ein gutes Bild bedarf keiner Erklärung. Man kann seine eigenen Ideen darauf projizieren
.

Galen Johnson: Es hat die Größe eines VW Käfers.

Evan Johnson: Außerdem ist es nicht der erste Film, in dem wir ein riesiges Gehirn zeigen. 2015 haben wir einen Film namens THE FORBIDDEN ROOM gedreht, der mit einem viel größeren Gehirn endete. Es ist so etwas wie ein wiederkehrendes Bild für uns. Vielleicht liegt es daran, dass Gehirne für all die Arbeit, die sie leisten müssen, immer irgendwie lächerlich aussehen. Sie haben eine übergroße Bedeutung, aber es gelingt ihnen nicht, ihre Würde zu bewahren. Wenn Sie wollen, können Sie darin sicher eine hübsche Metapher sehen.

Wessen Idee war es, Charles Dance als amerikanischen Präsidenten zu besetzen?

Guy Maddin: Wir haben versucht, die Figuren im Film den realen Figuren anzugleichen, ohne dass sie eins zu eins dargestellt werden. Und eine Möglichkeit, den amerikanischen Präsidenten nicht zu spezifisch mit jemandem in Verbindung zu bringen, bestand darin, ihm einen britischen Akzent zu geben. Dahinter steckt. noch ein zweiter Gedanke: Viele amerikanische Schauspieler ärgern sich immer wieder, dass britische Schauspieler ihnen die besten Rollen wegschnappen. Wie Daniel Day-Lewis, der Lincoln spielte. Anthony Hopkins war Richard Nixon. Oder Gary Oldman verkörpert in OPPENHEIMER Harry S. Truman, den 33. Präsidenten der Vereinigten Staaten, der die beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen ließ.

Evan Johnson: Also wählten wir den englischsten Engländer, der uns einfiel. Und den zugleich erhabensten. Charles Dance ist in meinen Augen präsidialer als JFK. Und er spricht mit einem Akzent, der 200 Jahre Kolonialmacht repräsentiert.

Was unterscheidet Roy Dupuis von Justin Trudeau?

Evan Johnson: Roy Dupuis spielt einen Typen, für den sich unser bisheriger Premierminister in seiner zehnjährigen Amtszeit immer gehalten hat: Einen Mann der Tat.

Guy Maddin: Dabei ist Justin Trudeau eher ein unterwürfiger Politiker, Roy dagegen ist sehr intensiv und melodramatisch.

Die Umrisse von Ursula von der Leyen und Angela Merkel sind in Cate Blanchett als Kanzlerin zu erkennen.

Evan Johnson: Gut beobachtet, sonst sagen immer alle nur Angela Merkel. Aber der Wikipedia-Eintrag von Ursula von der Leyen ist viel lustiger. Er enthält mehr haarsträubende biografische Behauptungen, wie etwa, dass sie verdeckt in Großbritannien leben wollte, weil die Rote Armee Fraktion angeblich ihre Familie bedrohte. Außerdem ist Ursula von der Leyen - aus dramaturgischer Sicht - eine spannendere Persönlichkeit als Angela Merkel.

Gibt es Staats- und Regierungschefs in der Vergangenheit oder Gegenwart, die sie bewundern?

Guy Maddin: Als Kind glaubte ich tatsächlich an Pierre Trudeau. Ich war 12, als er gewählt wurde, und er schien anders zu sein. Er war kein Berufspolitiker. Er war Anwalt und hatte das übliche Regelwerk der Benimmschule über Bord geworfen, was ziemlich cool war, besonders in den 1960er Jahren. Aber am Ende hat er sich, wie alle anderen, auf eine Karriere des politischen Kampfes eingelassen.

Evan Johnson: Ich bin unschlüssig. Ich wollte gerade François Mitterrand sagen, denn ich erinnere mich, dass ich zu Beginn seiner Amtszeit alle möglichen Anekdoten über ihn las, in denen er wie eine aufregende Persönlichkeit wirkte. Aber je länger er Präsident von Frankreich war, desto umstrittener wurde auch er. Ich weiß nicht, ob man als Staatsoberhaupt wirklich langfristig gewinnen kann.

Die Welt, die Sie im Film beschreiben, steht kurz vor einer Apokalypse, die vage und undefiniert bleibt. Warum?

Guy Maddin: Es wird immer eine Art von Apokalypse geben, auf die die Welt zusteuert. Als ich ein Kind war, war es der Kalte Krieg. Und jetzt ist die Krise du jour sicher die globale Erwärmung. Sie ist vielleicht nicht so immanent wie damals die nukleare Bedrohung, als ich ein Kind war, und alle an Dr. Seltsam dachten, bei dem die Bomben alle auf einmal hochgingen. Nein, sie wird langsam vor sich hin köcheln und mehrere Generationen betreffen. Aber weniger brisant oder katastrophal ist die Lage deshalb nicht.

TANZ DER TITANEN ist in jeder Hinsicht ein Film von großer Aktualität. Wie hat sich das für Sie angefühlt, im Hier und Jetzt zu arbeiten?

Guy Maddin: Es war immer so geplant. Die Ästhetik der 1920er und 1930er Jahre anzuwenden, hätte in diesem Fall nicht viel Sinn ergeben. So abgedroschen es klingt: Es kommt immer auf die Geschichte an.

Haben Sie das Gefühl, der Film ist dadurch vielleicht etwas weniger persönlich als Ihre bisherigen Arbeiten?

Guy Maddin: Nach THE FORBIDDEN ROOM, der doch einige autobiografische Anleihen hatte, fühlte ich mich etwas ausgelaugt. Als hätte ich meine persönliche Vita erschöpft oder abgetragen, wie im Tagebau. Und ich war eine Zeit lang ziemlich vorsichtig, noch weiter in mich hineinzugehen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich ja aber noch ein paar Jahre zu leben habe. Deshalb wollte ich jetzt einfach mal versuchen, meinen Radius zu erweitern. Evan und Galen haben es mir ermöglicht, denn allein hätte ich das nicht gekonnt und gewollt.

Wie kam es dazu, dass Sie sich in Ihrer Karriere bisher so sehr auf die Vergangenheit und speziell das Kino der Weimarer Zeit konzentriert haben?

Guy Maddin: Als ich das Originaldrehbuch von Kazuo Ishiguro zu THE SADDEST MUSIC IN THE WORLD in die Hände bekam, spielte es in der Gegenwart. Aber damals traute ich mir noch nicht zu, einen zeitgenössischen Film zu drehen. Also haben wir, mein Co-Autor George Toles und ich einfach alles auf die 1930er Jahre umgestellt. Es war für mich wie ein Sicherheitsnetz. Aber ich bin sehr erleichtert, das jetzt hinter mir zu lassen. Ich habe lange genug in der Vergangenheit gelebt.

Hat sich durch die Arbeit an TANZ DER TITANEN Ihr Blick auf die Ästhetik des Kinos verändert?

Guy Maddin: Es gibt die verschiedensten Arten von Form und Stil in der Kunst. Beim Filmemachen können viele Menschen in etwas Modernem kein Melodrama sehen. Sie denken bei dem Begriff nur an Douglas Sirk oder Fassbinder. Mohammad Rasoulof oder Andrea Arnold dagegen sind vielleicht auf den ersten Blick nicht die melodramatischsten Filmemacher*innen, aber auch der Realismus bedient sich diverser Kunstgriffe. Das wahre Leben lässt sich nun mal nicht zeitlich raffen oder in die Länge ziehen. Es ist auch nicht farbkorrigiert oder verschwommen oder synchronisiert.

**Was, denken Sie, werden die echten Politiker*innen, die Sie im Film nachempfinden, von ihrer Darstellung halten? **

Guy Maddin: Ich schäme mich fast, es zu sagen, aber ich glaube, sie werden den Film nicht so sehr verfluchen, wie ich es mir wünschen würde.

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