Filmgespräch

Dag Johan Haugerud über Oslo-Stories: "Ich habe wenig Erwartungen und lasse die Dinge geschehen."

Die „Oslo-Trilogie“ entstand in den letzten zwei Jahren: SEHNSUCHT (SEX) feierte auf der Berlinale 2024 seine Premiere, LIEBE lief im Sommer im Wettbewerb von Venedig, und TRÄUME wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Die Filme erzählen jeweils eigene Geschichten und lassen sich in beliebiger Reihenfolge gucken. Alle drei erforschen die Stadt Oslo, in der sie spielen, und die Bandbreite realer - und imaginärer - Paarbeziehungen.

Pamela Jahn: Herr Haugerud, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten großen Crush?

Dag Johan Haugerud: Ziemlich genau sogar. Ich habe eine sehr lebhafte Erinnerung daran, völlig versunken zu sein in dieses warme Gefühl, die Schmetterlinge im Bauch. Aber auch die Unsicherheit, das Grübeln und die Angst vor Ablehnung. Ständig analysiert man alles, jede Geste, jedes Wort, bis im Kopf daraus eine Liebesgeschichte wird.

Wie haben Sie dieses Wirrwarr an Emotionen damals verarbeitet?

Ich habe schon sehr früh begonnen, Tagebuch zu schreiben. Aber um ehrlich zu sein, war der Moment meiner ersten Liebe eher flüchtig, wie das Aufblasen und Platzen eines Luftballons. Sobald die Romanze Realität wurde, war alles ziemlich schnell wieder vorbei.

Es wirkt aus heutiger Sicht fast ein bisschen altmodisch, dass Johanne in TRÄUME ihre Geschichte aufschreibt, anstatt sie in den sozialen Medien zu teilen. Ist sie in dieser Hinsicht ein untypischer Teenager?

Schreiben ist auf vielen Ebenen ein faszinierender und therapeutischer Prozess. Und er ist zeitlos. Einerseits verschafft einem das Schreiben Zugang zu den eigenen Gedanken. Zumindest war das bei mir der Fall, als ich jünger war. Es hat mir geholfen, meine eigene, persönliche Stimme zu finden. Es kann aber auch auf ganz besondere Weise heilsam sein. Schreiben befreit den Geist. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Posts und Stories in den sozialen Medien die gleiche Kraft haben. Wenn man stattdessen seine intimsten Gedanken über das schriftliche Erzählen mit den Menschen teilt, denen man vertraut, kann hoffentlich ein Umfeld entstehen, das einem hilft, sich zu weiterzuentwickeln und zu sich selbst zu finden.

Wie hat sich Ihr eigener Schreibprozess im Laufe der Jahre verändert?

Ich analysiere das nicht. Ich schreibe einfach so vor mich hin. Tatsächlich bin ich selbst gar nicht so sehr daran interessiert, Geschichten im klassischen Sinn zu erzählen. Ich interessiere mich nicht für Handlungsstränge und dramatische Wendungen. Viel lieber beobachte ich verschiedene Situationen und versuche, sie aufeinander aufzubauen und miteinander in Beziehung zu setzen.

Was macht einen guten Beobachter aus?

Ich bin in der Hinsicht ziemlich offen und nicht so leicht zu überraschen. Ich habe wenig Erwartungen und lasse die Dinge geschehen. Nicht nur in Bezug auf Ereignisse und Situationen, sondern auch, wenn ich Menschen treffe. Ich versuche, die Leute nicht zu beurteilen oder in irgendeiner Weise einzuschränken. Das macht es interessanter, mit ihnen zu sprechen und ihre Beziehungen zu betrachten. Gerade in Gesprächen ist es oft wichtiger, darauf zu hören, wie ihre Stimmen klingen, als darauf zu achten, wie sie sich verhalten. So kann man beispielsweise eine Unsicherheit oder Unbeholfenheit viel besser ausmachen als in der Mimik oder Gestik.

Gibt es so etwas wie eine perfekte Beziehung?

Nein, alle Beziehungen sind problematisch. Es kann ebenso schwierig sein, in einer monogamen Ehe zu leben, wie in einer offeneren oder polyamoren Beziehung. Es gibt immer Konflikte, weil es menschlich ist. Wir fühlen unterschiedlich und wollen unterschiedliche Dinge. Die größte Herausforderung besteht darin, herauszufinden, was man in Sachen Sexualität und Liebe will, was einen wirklich glücklich macht. Man muss vor allem lernen, ehrlich sich selbst gegenüber zu sein. Natürlich spielt auch die Gesellschaft, in der man lebt, eine Rolle. Aber zuerst muss man sich selbst akzeptieren. Alles andere ist zweitrangig.

War TRÄUME für Sie immer eine weibliche Geschichte?

Das lag daran, dass ich es für diese Frauen geschrieben habe. Ich hatte bereits mit Ella Øverbye gearbeitet, als sie 11 Jahre alt war, und ich wollte sehen, wie sie sich mit der Zeit als Person und auch als Schauspielerin entwickelt hat. Dasselbe gilt für Ane Dahl Torp und Anne Marit Jacobsen. Ich kenne sie schon sehr lange, habe sie aber noch nie als Mutter und Tochter zusammen gesehen. Auf mich wirken sie in gewisser Weise sehr ähnlich sind, auch wenn sie sehr unterschiedliche Charaktere sind.

Was war so faszinierend an Ella Øverbye, dass Sie ihre Karriere verfolgt haben

Wir haben uns bei einem regulären Casting für meinen Film BEWARE OF CHILDREN kennengelernt. Sie war das dritte Mädchen, mit dem ich sprach, und es hat sofort geklickt zwischen uns. Wir hatten den gleichen Humor, das ist wichtig für mich, wenn ich mit Schauspielerinnen arbeite, denn dann ist die Kommunikation viel einfacher. Ich hatte auch das Gefühl, dass wir uns sofort vertrauten. Ich bin als Regisseur ziemlich unsicher und den Schauspielerinnen, besonders wenn sie jung sind, geht es oft ähnlich. Wir müssen also gemeinsam einen Weg finden, damit es funktioniert.

TRÄUME ist ein Film über den schmalen Grat zwischen Fiktion und Wahrheit. Spielt es eine Rolle, was wirklich zwischen Johanne und ihrer Lehrerin passiert ist?

Ja. Aber Wahrheit und Realität können zwei verschiedene Dinge sein. Wenn man etwas tief in seinem Herzen spürt, dann sind diese Emotionen echt. Und was Johanne in dieser Liebesgeschichte erlebt, ist sehr wahr. Es ist wahr für sie. Genauso erlebt und empfindet auch ihre Lehrerin etwas. Wenn wir sie in der Szene mit Johannes Mutter sehen, versteht man, dass, auch wenn bestimmte Sachen im wirklichen Leben nicht passiert sind, sie in gewisser Weise in ihr passiert sind. Es ist eine Grauzone, zu definieren, wann eine Handlung tatsächlich zu sexuellem Verhalten wird. Wann wird Sex zu Sex? Was erleben die beiden Figuren, auch wenn sie keinen Geschlechtsverkehr im herkömmlichen Sinne haben?

Warum war es Ihnen wichtig, zu Beginn Johannes Voice-over zu verwenden?

Weil alles, was sie denkt oder tut, völlig subjektiv ist. Alles, was man im ersten Teil des Films sieht, geschieht in ihrem Kopf. So hat sie ihr eigenes Leben erlebt, so hat sie darüber nachgedacht. Und man muss sich vollkommen in ihre Wahrnehmung hineinversetzen, denn sie verlangt es so. Irgendwann stoppt sie sogar die Handlung, sie hat die totale Kontrolle – zumindest bis zu einem gewissen Punkt.

Ist TRÄUME der Teil Ihrer Oslo-Trilogie, in dem Sie sich künstlerisch und kreativ am freisten gefühlt haben?

Nicht unbedingt, denn schon als ich das Drehbuch schrieb, hatte es eine seltsame Struktur. Man weiß nicht wirklich, wo der Mittelpunkt des Films ist, weil es die ganze Zeit hin und her geht. Ich hatte gewisse Bedenken, ob das auf der Leinwand genauso funktionieren würde. Aber ich habe mich dann einfach darauf eingelassen. Es war in dem Fall eher wie beim Schreiben von Literatur, was für mich sehr selten ist.

Sie haben drei Filme über unsere innersten Gefühle gedreht, über unsere Zweifel und unsere Verletzlichkeit. Wie blicken Sie heute auf Ihre eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen?

Ich würde gerne glauben, dass mir die Arbeit an der Trilogie geholfen hat, mich als Regisseur weiterzuentwickeln, aber auch auf menschlicher Ebene. Ich sehe Sexualität als etwas Lustvolles. Etwas, das Aufmerksamkeit benötigt, ebenso wie die Frage nach der eigenen sexuellen Identität.

TRÄUME wird als Coming-of-Age-Geschichte bezeichnet. Aber die Frage ist, wer muss hier wirklich erwachsen werden? Geht es nicht viel mehr auch um ihre Mutter und die Großmutter?

Absolut, aber auf unterschiedliche Weise. Die wahrscheinlich interessanteste Figur für mich ist die Großmutter. Wenn man jung ist, hat man viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und auszuprobieren. Aber im Alter sieht die Sache anders aus. Man hat immer noch die gleichen Sehnsüchte, man hat die gleichen Träume. Nur, wie findet man einen Weg, diesen Leidenschaften mit Mitte siebzig noch nachzugehen?

Die Reihenfolge der Filme ist nicht festgelegt. In Deutschland wird die Oslo-Trilogie als LIEBE, TRÄUME, SEHNSUCHT veröffentlicht. Gab es ursprünglich einen festen Plan?

Das ist in den verschiedenen Ländern wirklich komplett unterschiedlich: In Norwegen sollte es SEHNSUCHT, TRÄUME und LIEBE sein. In Italien ist es TRÄUME, LIEBE, SEHNSUCHT. Im Vereinigten Königreich TRÄUME, SEHNSUCHT, LIEBE. Die Teile funktionieren in unterschiedlicher Abfolge, und das ist großartig.

Hat sich die Dynamik zwischen den Filmen für Sie während der Arbeit daran verändert?

Nicht beim Schreiben, eher im Schnittprozess. Wir haben sie gewissermaßen neu aufgebaut, weil wir sie in einer anderen Reihenfolge gedreht hatten. Ursprünglich sollte LIEBE das Finale sein. Die Idee war, dass die Teile aufeinander aufbauen und sich gegenseitig widerspiegeln. Aber dann war ich mir nicht mehr so sicher, ob das wirklich notwendig war. Je länger ich an dem Projekt gearbeitet habe, desto mehr begannen die Geschichten und Figuren, ineinander zu verschmelzen, und ich habe die Form und Struktur immer weniger in Frage gestellt.

Was macht Oslo zur Stadt der Liebe?

Alle Städte sind Orte der Sehnsucht, der Träume, der Liebe, des Sex. Aber heute gefällt mir Oslo besser als früher. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich dort zu Hause zu fühlen. Es war für mich vor allem spannend, die Architektur aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Damit hatte ich vorher nicht gerechnet.

Es ist ein Klischee, aber die Skandinavier gelten allgemein als aufgeschlossener, wenn es um Liebe oder Beziehungen geht. Würden Sie dem zustimmen?

Ich habe das Gefühl, dass die nordischen Länder ziemlich säkularisiert sind. Sie spüren den Druck der christlichen Moral nicht so sehr. Andererseits geht es in der Politik und Gesellschaft sehr stark um klassische Familienmodelle und -planung. Letztendlich ist es wahrscheinlich wie überall in Europa ähnlich: Wenn man ein sexuell freies, unabhängiges Leben führen möchte, ist das in den Metropolen durchaus möglich. Aber wenn man die Leute auf dem Land fragt, wird es schwierig, auch heute noch.

Vielleicht steckt da eine weitere Geschichte für Sie drin?

Nicht für mich, nicht jetzt. Es war eine tolle Herausforderung, sich dem Thema auf so vielen verschiedenen Ebenen zu nähern. Und wenn man so will, kann man ewig Filme über Liebe, Sex und alles dazwischen drehen. Aber ich will hier keine Franchise daraus machen. Ich habe andere Träume, andere Ideen.

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