Pamela Jahn: Herr Reitz, wie wichtig ist heute die Philosophie?
Edgar Reitz: Wenn Sie die akademische Philosophie meinen, ist sie wahrscheinlich nicht mehr so entscheidend. Aber Philosophie bedeutet heute viel mehr: Neue Fragen zu entwickeln und sie anders zu stellen. Das Denken aus den wissenschaftlichen Zusammenhängen in die Praxis herauszuführen. Auch in die Politik, und in das menschliche Leben. Vielleicht ist in der Hinsicht der Begriff dann auch gar nicht mehr zutreffend.
Wie würden Sie es nennen?
Ein Nachdenken. Wir alle sind als Menschen in der Lage, uns aus der Situation, in der wir uns befinden, hinauszudenken. Wir haben in der Fantasie die Möglichkeit, uns die Konsequenz unseres Handelns vorzustellen und können für uns selbst entscheiden, ob wir das, was voraussichtlich geschehen wird, wollen oder nicht. Ein einfaches Beispiel: Sie kochen sich morgens einen Kaffee und überlegen, wie sie ihn trinken wollen, wo und mit wem. Das heißt, die Wahrnehmung unserer Freiheit hat damit zu tun, dass wir diese Vorstellungskraft besitzen, uns selbst im Kleinsten Alternativen auszudenken, dass wir uns eine andere als die reale Welt ausmalen können, zu jedem Augenblick und in jedem praktischen Zusammenhang. Und das ist die Basis einer modernen Philosophie.
Basiert auch Ihre Arbeit als Filmemacher auf dieser Denkweise?
Ich bin kein Philosoph, aber dieser Grundgedanke ist für mich eine Voraussetzung, um Filme zu machen. Ich kann nicht arbeiten, ohne mir vorzustellen, was wäre, wenn ich es nicht tun würde, oder ohne mir die Alternativen vor Augen zu halten.
Was verbindet Sie mit Gottfried Wilhelm Leibniz?
Der Name ist mir in meinem Leben immer wieder begegnet. Schon während des Studiums, als ich anfing, mich mit Filmen zu beschäftigen. Ich war immer auch interessiert an der Kulturgeschichte, als Hintergrund meiner künstlerischen Tätigkeit. Aber ganz konkret auf das Thema gestoßen bin ich, als die Stadt Hannover zum dreihundertsten Todestag von Leibniz eine Festveranstaltung plante und bei mir anfragte, ob ich nicht eine Idee hätte, filmisch etwas dazu beizutragen. Daraufhin habe ich mich noch einmal genauer mit der Biografie von Leibniz und seiner Zeitgeschichte auseinandergesetzt.
Was unterscheidet ihn von anderen Philosophen?
Es wird immer gesagt, seine Universalität sei das Besondere. Das trifft in gewisser Weise auch zu. Obwohl heutzutage Universalität etwas anderes bedeutet als zu Leibniz' Zeiten. Es kann heute nicht mehr so einen klugen Menschen geben, der alles weiß. Das war in der Barockzeit gerade noch denkbar. Aber für mich ist das auch nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist Leibnitz' Erkenntnis, dass in der Natur alles mit allem verbunden ist, und dass man nicht irgendetwas berühren kann, ohne damit alles zu berühren. Es gibt keine Trennung innerhalb der Schöpfung, sagt er. Trotzdem ist nichts dem anderen gleich. In einer Welt, in der alles zusammenhängt, ist dennoch jedes einzelne Element unverwechselbar. Sogar ein Wassertropfen gleicht nicht dem anderen. Schon gar nicht ein Mensch. Er ist nie mehr wiederholbar und gleichzeitig stets mit allen anderen Lebewesen verbunden. Was man einem antut, tut man allen an. Was man einem schenkt, schenkt man allen.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Am Beispiel, das wir im Film gewählt haben, lässt sich das wunderbar beschreiben. Denn bei der Porträtmalerei geht es schließlich um die Schwierigkeiten mit dem Unverwechselbaren und das Einfangen des nie mehr Wiederholbaren. Es fängt gleich bei dem Hofmaler zu Beginn an: Der kommt her mit einem vorfabrizierten Bild. Da sind die Haare schon gemalt und das Gewand - nur das Gesicht fehlt. In dem Moment ist die Individualität schon zerrissen, und Leibniz stellt die Frage: Worin liegt die Wahrheit des Bildes? Erzählt das Bild wirklich etwas über mich?
Für Leibniz scheint die Antwort klar.
Er kommt zu dem Schluss: Alle Bilder lügen. Kein Bild kann wahr sein. Aber das gilt nicht in der Kunst. Denn hier liegt die Wahrheit des Bildes woanders. Es geht nicht nur um die Ähnlichkeit zwischen dem Bild und der Wirklichkeit. Nur, was heißt das, die Ähnlichkeit? Gibt es irgendwo eine Zone der Oberfläche in der mein Wesen sichtbar wird? Ja, die gibt es tatsächlich im gemalten Bild. Da muss eine metaphysische Berührung stattgefunden haben. Denn sonst könnten wir uns nicht verstehen. Und sonst wären wir auch gar nicht hier. Diese Übergänge zwischen Innen und Außen zu beschreiben, das ist die Aufgabe der Kunst. Mit anderen Worten: Es gibt eine künstlerische Wahrheit, und die liegt sozusagen in einer Innensicht, in einer inneren Dimension. Denken Sie nur an die Mona Lisa. Jeden Tag strömen die Besucher zu Tausenden in den Louvre, um sich dieses Porträt anzuschauen, nichts anderes als ein Bild, aber die abgebildete Person bleibt im Kunstwerk über Jahrhunderte hinweg lebendig und sieht die Menschen mit ihrem rätselhaften Lächeln an.