Filmgespräch

Regisseurin Mascha Schilinski über IN DIE SONNNE SCHAUEN: "Ich war immer eine Art Detektivin in eigener Mission."

Mascha Schilinski (*1984) wurde in Berlin geboren. Sie arbeitete bereits als Kind als Schauspielerin und reiste als junge Erwachsene mit einem Wanderzirkus durch Europa, bevor sie Drehbuch an der Filmschule Hamburg und Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studierte. Ihr zweiter Langfilm IN DIE SONNE SCHAUEN feierte seine Premiere im Wettbewerb des diesjährigen Cannes Filmfestivals und wurde mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.

Pamela Jahn: Frau Schilinksi, wann haben Sie das letzte Mal in die Sonne geschaut?

Mascha Schilinski: Wenn Sie es im wörtlichen Sinn meinen, ist es noch gar nicht so lange her. Jeden Tag, solange es nicht regnet.

Und im übertragenen Sinn?

Eigentlich auch. Für mich gilt immer beides.

In Ihrem Film verzweigen sich die Leben von vier weiblichen Figuren, die verschieden alt sind und jeweils zu anderen Zeiten auf einem sogenannten Vierseithof in der Altmark leben. Womit fing die Geschichte für Sie an?

Ich habe einen Sommer lang mit meiner Ko-Autorin Louise Peter auf diesem Hof verbracht, der auch später zu unserem Drehort wurde. Wir haben dort eine Fotografie gefunden von drei Frauen, die um 1920 entstanden ist. Das ungewöhnliche an dem Bild war, dass es wie ein Schnappschuss wirkt. Die Frauen stehen mit ihren Arbeitsschürzen da und schauen in die Kamera, als würden sie die vierte Wand durchstoßen und uns direkt anblicken. Und wir haben uns gefragt: Wer sind diese Frauen? Gleichzeitig kam mir ein Gedanke aus meiner Kindheit in einer Berliner Altbauwohnung erneut in den Sinn. Damals habe ich immer gerätselt, wer wohl früher einmal genau an der Stelle saß, an der ich jetzt sitze. Und wer hat hier was erlebt und was gefühlt? Diese Gleichzeitigkeit von Zeit gegeneinander zu montieren, hat mich filmisch sofort interessiert. Das in der einen Zeit jemand auf dem Hof steht und etwas ganz Profanes tut, wie im Handy zu daddeln, während jemand anderes genau an dieser Stelle eine existenzielle Erfahrung gemacht hat.

Gab es außer dem Foto noch andere Anhaltspunkte?

Was wir während der Recherche über die Altmark fanden, waren einzelne Kindheitserinnerungen, die sich fast mehr angefühlt haben, wie das verlorene Paradies einer Kindheit, idyllische Beschreibungen, verfasst wie im Plauderton. Doch manchmal standen kleine Sätze darin quer, über die wir gestolpert sind. Aussagen wie: Ich habe eigentlich ganz umsonst gelebt. Als wir das lasen, waren wir tief berührt. Wir haben uns gefragt, wie viele Menschen heute immer noch einfach nur ihre Zeit überdauern, anstatt wirklich zu leben.

Haben Sie dabei auch die eigene Kindheit noch einmal Revue passieren lassen?

Nicht meine Kindheit konkret, aber Louise und ich, wir sind gemeinsam auf immer mehr Fragen gestoßen, zu denen wir früher vielleicht einen direkteren Zugang hatten als heute aus der Erwachsenensicht. Ich habe mich auch bei meinem letzten Film schon von diesem eher kindlichen Blick leiten lassen, weil Kinder, wie ich finde, eine halluzinatorische Kraft haben, Dinge aufzudecken, die im Verborgenen bleiben sollen und für die es keine Worte gibt. Auch weil ihnen sonst wenig Orientierung geboten wird, oder geboten wurde, vor allem in den 1910er Jahren. Die kleine Alma im Film muss deshalb selbst versuchen, das zu entschlüsseln, was um sie herum geschieht.

Im Film dreht sich eine Szene darum, warum man rot wird.

Genau. Dass man so oft vom eigenen Körper verraten wird, war auch ein starkes Motiv für uns. Das Rotwerden ist schon ein irrer Vorgang. In dem Moment, wo man durch etwas peinlich berührt wird, das man um jeden Preis geheim halten möchte, macht der Körper das für unser Gegenüber aber ganz öffentlich sichtbar. Als würde er nach einem Weg suchen, mit der Umgebung in Kommunikation zu treten.

Neben diesen körperlichen Aspekten setzen Sie sich im Film auch intensiv mit dem Tod auseinander?

Ja, weil uns beim Schreiben auffiel, dass der Tod immer mehr aus unserer Gesellschaft verschwindet, aber vor hundert Jahren natürlich noch viel allgegenwärtiger war. Sterben gehörte damals unmittelbar zum Leben dazu. Trotzdem wurde nicht darüber gesprochen - und auch bis heute gibt es irgendwie keine Sprache dafür.

Ihre Herangehensweise klingt zunächst sehr assoziativ. Wie haben sich daraus die einzelnen Figuren und Geschichten entwickelt?

Wir sind tatsächlich komplett über diese radikal subjektive Perspektive eingestiegen, um diesem Gefühl nachzuspüren, wie es sich anfühlen könnte, wenn Ahnen sich gemeinsam erinnern, als würden diese Menschen gemeinsam einen Traum haben. Von daher rührt auch die Idee mit den haptischen Übergängen im Film, wie dem Griff nach einem Gegenstand, der die Generationen auf rätselhafte Weise verbindet. Und dazu gehörte eben auch der Bauernhof, den wir beim Schreiben entdeckt haben. Alles, was uns an diesen unsichtbaren Themen interessiert hat, von denen wir auch ganz lange nicht wussten, wie sie sich verfilmen lassen, haben wir auf diesen Ort projiziert.

Wann kamen dann die Figuren dazu?

Das war das Verrückte, wir hatten wirklich lange keine Figuren, auch keine Handlung. Wir hatten nur diese Atmosphären und diese zerstreuten Gefühle. Wir wollten sozusagen versuchen, einen Film über diffuse Beunruhigungen zu machen, wo man nicht mehr ganz zuordnen kann, woher sie kommen und wo sie hingehören.

Gab es eine bestimmte Szene, die Sie von Anfang an im Kopf hatten?

Tatsächlich war es das Bild von Erika auf diesen Krücken, die erste Szene im Film. Dieses Bild ist beim Schreiben als erstes aufgestiegen. In meiner Vorstellung sah ich eine Frau auf einem Bein mit Krücken. Dann entbindet sie das andere Bein. Daraus hat sich dieser Phantomschmerz entwickelt, der sich durch den gesamten Film zieht, und der auch ein Stück weit zum Sinnbild für das geworden ist, was diese Frauen erleben. Dass sie über Generationen hinweg ein Leid spüren, dessen Ursprung sie nicht mehr ausmachen können.

Ist es die Last der Weiblichkeit, die Ihre Figuren verbindet?

Nicht per se, ich würde es anders formulieren. Die Figuren sind der jeweiligen Zeit unterworfen, in der sie leben, und damit auch den jeweiligen Gesetzmäßigkeiten. Aus denen versuchen sie auszubrechen, so gut sie können, oder sie fangen überhaupt erst mal an zu hinterfragen, in welcher Welt sie da eigentlich gelandet sind. Sie alle suchen einen Weg der Befreiung, der aber oft nur imaginiert werden kann - und als letzte Konsequenz nur durch die Hilfe des Todes erreicht wird.

Sie haben zuvor gesagt, dass Ihnen bei der Recherche in den Sinn kam, wie viele Menschen einfach nur ihre Zeit überdauern, anstatt wirklich zu leben. Ist das nicht eines der großen Themen unserer Gesellschaft?

Ich bin immer skeptisch, wenn es darum geht, dass es heute etwas gibt, was es früher angeblich so noch nicht gab. Es ist erstaunlich, wie gleich die Probleme bei näherer Betrachtung sind. Ich glaube, dass sich die Dinge viel öfter wiederholen, als wir es uns eingestehen wollen. So wie jede Generation denkt: Schlimmer als jetzt war es noch nie. Was aber sicherlich geblieben ist und was wahrscheinlich auch ein Ausgangspunkt für diesen Film war, ist die eigentlich völlig unmögliche Sehnsucht nach der Einmaligkeit, diese unbedingte Freiheit, auf der Welt zu sein, ohne dass dem etwas vorausgegangen ist. Und damit zusammenhängend auch der Wunsch, dass man die Welt für sich selbst neu erfinden kann. Ich glaube, das ist es, was alle Figuren verbindet, und Louise und mich vielleicht auch mit ihnen.

Waren Sie als Kind auch so eine Schlüsselloch-Guckerin, wie Sie es jetzt im Film mit der Kamera tun?

Absolut. Ich habe nicht unbedingt durchs Schlüsselloch geschaut, aber ich war auf jeden Fall immer eine Art Detektivin in eigener Mission. Ich konnte mich wahnsinnig gut unsichtbar machen und habe stundenlang heimlich bei den Gesprächen von meiner Mutter und ihren Freunden mitgelauscht. Ich hatte auch ein Talent, viel zu lange wach zu bleiben und mich zu Hause quasi unsichtbar zu machen, um ganz nebenbei aufzusaugen, was um mich herum passiert ist oder besprochen wurde. Also diese Neugierde, wie sie die Mädchen im Film ausleben, kenne ich auch selbst sehr gut.

Die Bild-und Tonspur sind unmittelbar miteinander verbunden. Verstehen Sie Film an sich in erster Linie als Textur?

Ja, absolut. Für mich liegt darin das Spannendste am Filmen. Ich glaube, dass wir ganz viel noch gar nicht wissen, was narrativ eigentlich möglich ist. Auch mit der Form zu spielen oder zu schauen, wie man bestimmte Sachen, die erst mal auch nicht erzählbar scheinen, irgendwie fassen kann.

Denken Sie den Ton bereits beim Schreiben mit?

So sehr sogar, dass ich Notizen im Drehbuch mache. Zum Beispiel: Wir nähern uns der Mutter, die am Elbufer liegt. Die Kamera ist wie ein Geist. Das Schilf ist laut, es wird immer lauter, immer lauter. Cut. Komplette Stille, nichts ist mehr zu hören. Das sind Beschreibungen, die ich verwende, also auch diese harten Schnitte oder die weichen Übergänge. Zwar kann es sein, dass man später die Reihenfolgen in der Montage noch mal neu entdeckt. Aber die Essenz ist komplett beim Schreiben da.

Wie würden Sie die Menschen beschreiben, die in der Altmark leben?

Über das, was ich herausfinden konnte, und wie mir die Menschen jetzt begegnet sind, würde ich sie als sehr pragmatisch, sehr lösungsorientiert einschätzen. Es ist schon dieses sehr Bäuerliche, im Sinne von, es gibt kein Problem, was man nicht lösen kann. Vieles geht sehr über den Körper, es wird sehr pragmatisch gedacht. Im Vergleich zu der Berliner Bubble, in der ich selbst stecke, sind die Menschen dort auch unmittelbarer oder roher, und zugleich offener. Ich war sehr erstaunt, wie frei und unvoreingenommen mir die Leute von ihrem Leben erzählt haben. Alles war sehr unkompliziert, das hat mich sehr überrascht.

Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf das Foto von den drei Frauen zurückkommen, das Sie eingangs erwähnt haben. Gab es in dem Bild ein Detail, das Sie unbedingt im Film übernehmen wollten?

Ja, der Blick in die Kamera. Das war tatsächlich wie eine Initialzündung, dieser Blick in die vierte Dimension. Auch das Bewusstsein, dass man auf zwei Seiten steht und über die eigene Sterblichkeit reflektiert. Außerdem sind auf dem Bild im Hintergrund ein paar Hühner zu sehen, die uns total faszinierten. Es gab sogar einen Parallelfilm, den wir über die Tiere gesponnen haben und wie es wohl so für die Hühner generationsübergreifend läuft.

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Tipp von Clarissa

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‘IN DIE SONNE SCHAUEN verwebt Zeit und Raum, Alltagsrituale und Phänomene der Wahrnehmung.’

Läuft ab Donnerstag