Pamela Jahn: Frau Schilinksi, wann haben Sie das letzte Mal in die Sonne geschaut?
Mascha Schilinski: Wenn Sie es im wörtlichen Sinn meinen, ist es noch gar nicht so lange her. Jeden Tag, solange es nicht regnet.
Und im übertragenen Sinn?
Eigentlich auch. Für mich gilt immer beides.
In Ihrem Film verzweigen sich die Leben von vier weiblichen Figuren, die verschieden alt sind und jeweils zu anderen Zeiten auf einem sogenannten Vierseithof in der Altmark leben. Womit fing die Geschichte für Sie an?
Ich habe einen Sommer lang mit meiner Ko-Autorin Louise Peter auf diesem Hof verbracht, der auch später zu unserem Drehort wurde. Wir haben dort eine Fotografie gefunden von drei Frauen, die um 1920 entstanden ist. Das ungewöhnliche an dem Bild war, dass es wie ein Schnappschuss wirkt. Die Frauen stehen mit ihren Arbeitsschürzen da und schauen in die Kamera, als würden sie die vierte Wand durchstoßen und uns direkt anblicken. Und wir haben uns gefragt: Wer sind diese Frauen? Gleichzeitig kam mir ein Gedanke aus meiner Kindheit in einer Berliner Altbauwohnung erneut in den Sinn. Damals habe ich immer gerätselt, wer wohl früher einmal genau an der Stelle saß, an der ich jetzt sitze. Und wer hat hier was erlebt und was gefühlt? Diese Gleichzeitigkeit von Zeit gegeneinander zu montieren, hat mich filmisch sofort interessiert. Das in der einen Zeit jemand auf dem Hof steht und etwas ganz Profanes tut, wie im Handy zu daddeln, während jemand anderes genau an dieser Stelle eine existenzielle Erfahrung gemacht hat.
Gab es außer dem Foto noch andere Anhaltspunkte?
Was wir während der Recherche über die Altmark fanden, waren einzelne Kindheitserinnerungen, die sich fast mehr angefühlt haben, wie das verlorene Paradies einer Kindheit, idyllische Beschreibungen, verfasst wie im Plauderton. Doch manchmal standen kleine Sätze darin quer, über die wir gestolpert sind. Aussagen wie: Ich habe eigentlich ganz umsonst gelebt. Als wir das lasen, waren wir tief berührt. Wir haben uns gefragt, wie viele Menschen heute immer noch einfach nur ihre Zeit überdauern, anstatt wirklich zu leben.
Haben Sie dabei auch die eigene Kindheit noch einmal Revue passieren lassen?
Nicht meine Kindheit konkret, aber Louise und ich, wir sind gemeinsam auf immer mehr Fragen gestoßen, zu denen wir früher vielleicht einen direkteren Zugang hatten als heute aus der Erwachsenensicht. Ich habe mich auch bei meinem letzten Film schon von diesem eher kindlichen Blick leiten lassen, weil Kinder, wie ich finde, eine halluzinatorische Kraft haben, Dinge aufzudecken, die im Verborgenen bleiben sollen und für die es keine Worte gibt. Auch weil ihnen sonst wenig Orientierung geboten wird, oder geboten wurde, vor allem in den 1910er Jahren. Die kleine Alma im Film muss deshalb selbst versuchen, das zu entschlüsseln, was um sie herum geschieht.
Im Film dreht sich eine Szene darum, warum man rot wird.
Genau. Dass man so oft vom eigenen Körper verraten wird, war auch ein starkes Motiv für uns. Das Rotwerden ist schon ein irrer Vorgang. In dem Moment, wo man durch etwas peinlich berührt wird, das man um jeden Preis geheim halten möchte, macht der Körper das für unser Gegenüber aber ganz öffentlich sichtbar. Als würde er nach einem Weg suchen, mit der Umgebung in Kommunikation zu treten.
Neben diesen körperlichen Aspekten setzen Sie sich im Film auch intensiv mit dem Tod auseinander?
Ja, weil uns beim Schreiben auffiel, dass der Tod immer mehr aus unserer Gesellschaft verschwindet, aber vor hundert Jahren natürlich noch viel allgegenwärtiger war. Sterben gehörte damals unmittelbar zum Leben dazu. Trotzdem wurde nicht darüber gesprochen - und auch bis heute gibt es irgendwie keine Sprache dafür.