Filmgespräch

Jacques Audiard über Emilia Pérez: "Hört mal alle her, wir machen das jetzt komplett anders."

Jacques Audiard hat ein Faible für Menschen, die am Rande der Gesellschaft navigieren, seien es ein junger Häftling mit magrebhinischen Wurzeln (EIN PROPHET), eine Schwertwaltrainerin (DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN) oder ein Flüchtling aus Sri Lanka (DÄMONEN UND WUNDER). Sein jüngster Film EMILIA PÉREZ führt zu einem Ex-Kartellchef in Mexiko.

Pamela Jahn: Herr Audiard, Ihr neuer Film ist voller rhythmischer Leidenschaft und Energie. Sind Sie auch privat ein Musical-Fan?

Jacques Audiard: Auf keinen Fall. Ich kann dem Genre, ehrlich gesagt, wenig abgewinnen und kenne mich auch überhaupt nicht aus. Ich mag wirklich nur einzelne Musicals, zum Beispiel von Bob Fosse oder Jacques Demy, und schon gar nicht die Klassiker aus den 1930er und 1940er Jahren, sondern eher die aus Hollywood nach dem Zweiten Weltkrieg.

Trotzdem haben Sie ein Musical gedreht. Warum?

Als ich 2019 mit der Arbeit an dem Projekt anfing, hatte ich eigentlich eine Oper im Sinn, die auf einem Libretto basiert. Sie müssen wissen, ich liebe die Oper, obwohl ich insgesamt nicht viel Ahnung von Kultur habe. Schon als ich Mitte der 1990er meinen zweiten Film A SELF-MADE-HERO drehte, wollte ich es eigentlich so machen wie Peter Brook mit CARMEN
oder der Dreigroschenoper. Damals hat es nicht geklappt. Aber die Beziehung zwischen Oper und Film hat mich schon immer fasziniert.

EMILIA PÉREZ ist kein gewöhnlicher Musikfilm. Der Rhythmus ist sehr speziell. Es scheint, als würden die Songs schwerer werden, je gewalttätiger die Geschichte wird.

Das stimmt, am Ende ist es ein Lamento. Die Musik wird dunkler, sanfter.

Bestand die größte Herausforderung darin, das Musikalische in die Geschichte zu integrieren und in das Milieu, in dem der Film spielt?

Das jeweilige Genre in die Story einzuarbeiten ist immer mein Ansatz, das ist immer mein Ziel. Aber diesmal hatte ich mit einem der Grundprobleme bei musikalischen Komödien zu kämpfen, nämlich dass ich bestimmte Szenen nicht frei ändern konnte, wie ich es normalerweise getan hätte. Die Musik, die Songtexte und die dazu gehörigen Choreografien gaben die Richtung vor. Mit dieser Einschränkung musste ich leben. Mir blieb nur die Wahl, ein Lied zu kürzen oder im Schnitt ganz wegzulassen. Das bedeutete, dass ich mich bereits vor Beginn der Dreharbeiten intensiv mit dem Rhythmus und den tonalen Schwingungen auseinandersetzen musste. Das war komplett neu für mich. Es war ein komplizierter Prozess.

Dazu kommt, dass Sie erneut nicht in Ihrer Muttersprache drehen.

Ja, ich drehe viel in anderen Sprachen, sei es auf Englisch, Spanisch oder Tamil, wie in DHEEPAN. Der Grund dafür ist, dass ich nicht nur ein Opern-Freund, sondern auch ein Literatur-Liebhaber bin. Und wenn ich ein Buch auf Französisch lese, bin ich dabei immer sehr aufmerksam, was einzelne Wörter, Formulierungen oder den Ton angeht, weil ich alles verstehe. Aber wenn ich einen Roman lese oder einen Film anschaue, der nicht in meiner eigenen Sprache ist, ändert sich meine Perspektive. Ich achte viel mehr auf die Körperhaltung, die Bewegungen der Schauspieler, ihren Gesichtsausdruck. Und darauf kommt es meiner Meinung nach beim Filmemachen viel mehr an als auf die Tatsache, ob ich wirklich jedes einzelne Wort verstehe oder nicht.

Worin liegt für Sie der Reiz, immer wieder neue Genres auszuprobieren?

Das ist schwer zu sagen. Ich gehöre nicht zu den Regisseuren, die morgens aufstehen und sich vornehmen: Okay, ich werde mich jetzt mal mit diesem oder jenem Genre befassen. Für mich ergeben sich Filme auch nicht aus bestimmten Themen heraus. Es ist immer zuerst eine Reflexion, eine Meditation, anders kann ich es nicht beschreiben. Ein Film entsteht für mich aus einer Form heraus. Die Motive, die Geschichte, der Stil - all das kommt später dazu.

Gab es im Vorfeld Abwägungen bei der Besetzung der Titelrolle, die von einer trans Schauspielerin gespielt wird?

Ich hatte keine Alternative. Die Frage stellte sich also gar nicht. Ich konnte Manitas nicht von einem Mann und Emilia von einer Frau spielen lassen. Es musste eine transsexuelle Schauspielerin sein. Es war sehr wichtig, dass die Geschichte einer Transgender-Person auch glaubhaft im Transgenre widergespiegelt wird. All die anderen Genres, die der Film streift, ob Seifenoper, Drogenthriller oder bürgerliche Komödie, wenn sie so wollen, werden durch die Verwandlung von Manitas bestimmt und gesteuert.

Interessant ist auch die Besetzung der Nebenrollen mit den US-Stars Selena Gomez und Zoe Saldaña. Wie kam es dazu?

Ich kannte beide nicht. Zoe wurde mir von einem Agenten aus Los Angeles empfohlen, mehr als einmal. Ihre Besetzung erlaubte es mir, Rita eine Eigenschaft hinzuzufügen, die ich vorher nicht in Betracht gezogen hatte: Sie ist eine Morena, wie auf den Philippinen Frauen mit dunklem Haar und gebräunter Haut bezeichnet werden, was in Mexiko ein sehr spezifisches soziales Merkmal ist. Dazu kommt, dass sie eine großartige Schauspielerin ist, die singen und tanzen kann. Bei Selena war es ähnlich. Auch sie kannte ich nur aus SPRING BREAKERS und dem Woody-Allen-Film A RAINY DAY IN NEW YORK. Als wir uns trafen, war ich sofort von ihr fasziniert. Das einzige Problem war, dass sie trotz ihres Namens kein einziges Wort Spanisch spricht. Trotzdem sagte ich ihr nach zehn Minuten zu, dass sie engagiert sei. Sie dachte, ich sei verrückt.

Man sagt, der Mensch könne seinen Körper ändern, aber die Seele bleibt. Würden Sie dem zustimmen?

Ich denke schon. Auch Emilia glaubt, sie könne die Gewalt hinter sich lassen, doch dann holt sie ihre Vergangenheit irgendwann wieder ein. Sie wollte ihrem Schicksal entkommen, aber so einfach ist das nicht. Das Leben ist nun mal keine Komödie.

Die Zahl der Menschen, die in Südamerika aufgrund von Drogenkriminalität vermisst werden, steigt kontinuierlich. Ein ungewöhnlicher Stoff für ein Musical, finden Sie nicht?

Es ist ein sehr heikles Thema, keine Frage. Aber ich glaube, wenn man eine tragische Geschichte erzählt, ist Musik - speziell die Oper - genau die richtige Form, das richtige Medium. Ich bin viel in Mexiko herumgereist, als wir nach passenden Drehorten gesucht haben. Und dort kommt man um die Realität der Vermissten nicht herum. Die Tragödie ist allgegenwärtig. Ich habe das alles irgendwie eingeatmet und in mich aufgenommen. Zuhause in Paris war das Gefühl immer noch stark, aber der Abstand war wichtig. Nur so konnte ich mich damit auseinandersetzen, auch musikalisch. Vor Ort wäre ich wahrscheinlich daran gescheitert.

Inwiefern?

Die Musik hat es mir ermöglicht, das epische Gefühl der Erzählung mit den dramatischen Elementen der Realität zu vermischen. Die Lieder sind vollständig in die Geschichte integriert, sie sind Teil des Spannungsbogens. Ein bisschen wie in Jacques Demys LES PARAPLUIES DE CHERBOURG, einem Film über den Algerienkrieg. Die Songs sind ein fester Bestandteil der Handlung. Sie sind nicht nur als Ablenkungsmomente gedacht.

WEST SIDE STORY wäre ein anderes Beispiel.

Mein Problem mit WEST SIDE STORY in all seinen Versionen ist, dass ich den Film für einen groben Lapsus halte, weil es nicht eine einzige schwarze Figur im Ensemble gibt. Immerhin geht es um die 1960er Jahre und die Bürgerrechtsbewegung in den USA.

Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken, haben Sie das Gefühl, dass Sie als Regisseur heute selbstbewusster sind als zu Beginn?

Wenn man seinen ersten Film macht, schreibt man, steht hinter der Kamera, führt Regie und schneidet selbst. Ich habe drei Filme gebraucht, um überhaupt zu verstehen, wie das alles funktioniert. Erst mit A PROPHET hat sich mir eine ganz neue Welt eröffnet und ich habe mich in meiner Arbeit völlig unbefangen gefühlt. Aber man sollte als Regisseur nie übermäßig selbstbewusst sein. Zweifel beflügeln den künstlerischen Prozess.

Hat sich Ihre Vorgehensweise im Laufe der Jahre verändert?

Nein, ich schreibe normalerweise zuerst verschiedene Versionen des jeweiligen Drehbuchs, um später alles wieder zu verwerfen und mit den Schauspielern improvisieren zu können. Ich probe viel. An diesem Punkt erreicht man vielleicht so etwas wie Vertrauen in die eigene Arbeit. Ich weiß, es klingt paradox. Aber ich muss mein Material so präzise wie möglich vorbereiten, um es dann wieder komplett auf den Kopf zu stellen oder völlig verwerfen zu können. Das kann allerdings für die Leute, die mit mir zusammenarbeiten, manchmal ziemlich nervig sein.

Was kann im schlimmsten Fall passieren?

Ich schlafe nachts nicht besonders gut. Also nutze ich die Mittagspausen am Set, um ein 20-minütiges Nickerchen zu machen. Und in dieser Zeit kommen mir viele Ideen. Wenn ich dann wieder aufstehe, kann es durchaus vorkommen, dass ich sage: „Hört mal alle her, wir machen das komplett anders.“ Deshalb hat mein Team jetzt immer große Angst, wenn ich eine Siesta mache. Aber das Risiko müssen sie eingehen. Die Freiheit nehme ich mir.

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‘Audiard inszeniert die wilde Geschichte als extrem unterhaltsame Mischung aus Musical, Thriller und Melodrama.’