Filmgespräch

Regisseur Willy Hans über DER FLECK: „Ich vermisse es, mich zu langweilen.“

Willy Hans (*1982 in Freiburg) hat bei Angela Schanelec und Wim Wenders an der HfbK Hamburg Film studiert. DER FLECK ist sein erster abendfüllender Spielfilm und feierte auf dem Filmfestival in Locarno 2024 in der Sektion „Cineasti del presente“ seine Premiere.

Tom Dorow: Woher nimmst du den Mut, einen Film wie DER FLECK als dein Debüt ins Kino zu bringen? DER FLECK ist ja ein Film ohne klassische Dramaturgie und mit einer sehr eigenen Bildsprache.

Willy Hans: Der Kameramann Paul Spengemann und ich arbeiten jetzt seit zwölf Jahren zusammen, und sukzessive sind wir immer, ich will nicht sagen radikaler, aber stringenter geworden in der Art und Weise, wie wir über Bild und visuelle Sprache eine Story erzählen. Das wäre das eine. Das andere ist, dass es einen Punkt gab, an dem man sich entscheiden musste: Will man in das Genre Coming-of-Age, also will man das voll und ganz bedienen - dann muss man auch in diese Art des Storytellings reingehen. Oder will man dieses Genre eher benutzen als eine Art von Tableau, aus dem man sich bestimmte Sachen herauspickt und dann eher atmosphärisch und assoziativ erzählt. Entsprechend habe ich das Drehbuch geschrieben. Ich wollte vermeiden, dass über Dialog Informationen vermittelt werden, was ich in Filmen relativ langweilig finde. Es gibt dann eher Dialog, der für sich steht und der so ein bisschen skurril oder absurd ist. In meinem Gefühl oder meiner Erinnerung entspricht das mehr dem Jugendlichsein und diesem trägen Dahinplätschern der Zeit, als wenn es eine stringente Story wäre.

So eine jugendliche Welt existiert in ganz anderen Räumen als die von Erwachsenen. Das ist auch in deinen Kurzfilmen oft Thema gewesen: diese merkwürdigen Räume, die sich Jugendliche selbst schaffen, irgendwelche Dickichte oder eine Autobahnunterführung, seltsame Flecke, an denen man sich trifft.

Irgendwie bin ich angezogen von diesen komischen Orten, diesen Unorten. Beim FLECK ist es so, dass man eigentlich eine idyllische Landschaft hat, aber die wird immer wieder gebrochen durch eine Art von menschlichen Artefakten, die sichtbar werden in Form von Müll, der Autobahnunterführung oder einer Imbissbude. Das ist etwas, woran ich mich aus meiner Jugend erinnere. Ich bin im süddeutschen Raum großgeworden, in der Nähe von Freiburg. Und das waren die Orte, wo man sich aufgehalten hat. In der Nähe der Autobahn, hinterm Gebüsch, hinterm Sportplatz. Das sind diese Dickichte, die ganz banal sind. Aber über diese Banalität entsteht etwas Mystisches oder Magisches, und ich glaube, das ist es, was mich filmisch sehr interessiert.

Es sind sehr intime Räume, in denen Erwachsene zum Beispiel keinen Zutritt haben.

Die haben keinen Zutritt, aber auch kein Erleben in dem Sinne, weil das Erleben im Kindlichen und Jugendlichen auch dadurch entsteht, dass für sie die Zeit eine ganz andere ist. So findet es auch beim FLECK statt. Die Zeit wird gedehnt, aber dann an einer bestimmten Stelle auch gestaucht und ist eigentlich ein unzuverlässiger Faktor. Darüber findet dann auch das Erleben dieser Räume statt. Dadurch, dass Dinge anders beobachtet werden, dass Dinge eine andere Bedeutung kriegen, allein durch die Langeweile - die auch ein sehr großer Faktor in meinem Film ist – wird die Umwelt anders wahrgenommen als es bei uns Erwachsenen der Fall ist. Bei uns ist die Zeit viel mehr durchgetaktet, und man geht sehr, sehr viel rationaler mit der eigenen Zeit und mit dem Erleben der eigenen Zeit um.

Es ist nicht einfach, Langeweile so zu inszenieren, dass zwar die Dauer spürbar wird, aber dass sie eben in der Erzählung oder im Film nicht langweilig wird. Die Darstellung der Langeweile spielt in deinen Filmen oft eine Rolle.

Ich glaube, das ist letztendlich auch eine Geschmacksfrage. Ich erlebe auch beim FLECK, dass es Zuschauer*innen gibt, die frustriert darüber sind, dass es kein Vorankommen gibt oder dass man diese Langeweile auch ein Stück weit aushalten muss. Für mich ist es total wichtig und sehr aufregend, Langeweile darzustellen und mitzuerleben, denn als erwachsene Person gibt es das nicht mehr. Ich sage manchmal, auch um zu provozieren, dass ich es vermisse, mich zu langweilen. Aber es ist auch tatsächlich so. Erst in der Langeweile tritt diese Art des Mystischen oder Magischen zutage: indem man nichts tut oder die Zeit aushält oder die Zeit verstreichen lässt, auch durch Müßiggang, aber vor allem durch Langeweile, die ja erstmal negativ konnotiert ist oder sehr negativ wahrgenommen wird.

Das Narrativ unserer Gesellschaft verlangt, dass man die ganze Zeit aktiv und produktiv ist. Dann gibt es eine neue Regierung, die sagt: "Work Life Balance ist out. Das ist jetzt kein Ziel mehr für eine Gesellschaft, sondern nur die absolute Produktivität." Und vielleicht ist mein Film auch eine Antithese dazu, dass man fleißig sein muss. Das, was einen als Mensch ausmacht, liegt halt auch im Nichtstun.

In deinen Kurzfilmen bricht oft etwas Unheimliches oder direkte Gewalt in diese Langeweile ein. In DER FLECK gibt es auch plötzlich diesen Moment des Unheimlichen in einer Szene, bei der du ins Gebüsch schwenkst, und dann beginnt die Musik atonalere Töne anzuschlagen und erinnert an einen Horrorfilm. Ohnehin könnten einige deiner Einstellungen so auch im Horrorfilm stattfinden. Wie kommt dieses Element des Unheimlichen ins Spiel?

Ich würde sagen, dass es fast unabsichtlich passiert, aber natürlich nicht ganz. Paul und ich haben uns diese visuelle Sprache und diese Erzählform erarbeitet, bei der man im entscheidenden Moment in einer Art und Weise abbiegt. Man schaut nicht dieser beginnenden Liebe weiter zu, sondern die Kamera richtet den Blick in die Natur herein. Die ist erstmal nur ein Backdrop, aber sie hat vielleicht auch eine metaphorische Qualität als Spiegelbild für die Liebesgeschichte. Eigentlich würde man eine Klimax erwarten, dass sich geküsst wird oder sie trennen sich wieder, oder es beginnt ein Streit oder irgendetwas, aber wir entscheiden uns dagegen und schauen in diese Art von Zeitlosigkeit rein.

Meine Kurzfilme sind zugegebenermaßen oft gewaltvoll, oder es passiert etwas, das stellvertretend für Gewalt in der Familie stehen könnte . Es gibt eine toxische Dynamik zwischen den Familienmitgliedern, aber sie ist auch nicht so toxisch, dass man sagen könnte, Okay, trennt euch, denn es gibt immer noch genügend Zuneigung. Dieses Zwischenfeld interessiert mich, zwischen Zuneigung aber auch Abneigung, dieses feinstoffliche Etwas, das unsere menschlichen Beziehungen ausmacht. Ich sehe keine andere Art der Darstellung als über diesen Umweg des Mystischen und des Unheimlichen. Eine andere Möglichkeit wäre, über die Story zu gehen, aber meine Erzählweise ist eher der Umweg über das Atmosphärische, über das Zauberhafte, das aber auch so eine Düsternis in sich trägt.

Atmosphäre ist etwas, das ganz schwer zu schaffen ist und auch in vielen Filmen nicht wirklich funktioniert. Da spielen auch Sachen wie das Wetter hinein. Deine Filme spielen oft draußen, und es geht auch um die Luft und die Materialität des Films selbst. Auf welchem Material ist DER FLECK eigentlich gedreht?

Wir haben auf 16 Millimeter gedreht. Zum Wetter: Ich wollte diesen superheißen Sommertag erzählen, an dem die Wahrnehmung verlangsamt ist und man träge den Ereignissen hinterherrennt. Als wir angefangen haben zu drehen, hatten wir Regen, und es war arschkalt, aber dann hatten wir wirklich für eine lange Zeit genau dieses Wetter. Es war brütend heiß. Und als wir dann in dieser Experimentalphase im Film waren, wo man nur noch ins Gebüsch reinschaut, in die Natur, kippt das Wetter, es fängt an zu regnen, der Fluss schwillt an und wird reißend. Das war ein sehr glücklicher Zufall, fast wie eine dramaturgische Entwicklung innerhalb dieser Experimentalsequenz, dass es wirklich so bedrohlich wird, dass dieser Fluss zu einem reißenden Strom wird und die Kamera nur noch runterfährt, fast in den Fluss rein. Das hatten wir nicht geplant. An dem Tag hat es einfach wahnsinnig geschüttet und es sah dann so aus.

Achtung, nach dem Bild folgt ein Spoiler!

DER FLECK der zweite Film, den du mit einer Tanzszene beendest.

Ja.

Drückst du dich da nicht ein bisschen um eine Auflösung? Am Schluss gibt es eine Party. Aber es ist ja keine Auflösung im eigentlichen Sinne, oder? Eher so eine formal behauptete Selbstauflösung, die aber nirgendwohin führt.

Ich wollte konsequent sein innerhalb der Erzählung, die sehr wenig nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip funktioniert. Ich etabliere eine Pseudo-Katharsis. Das, was an diesem Tag passiert ist, fällt von den Figuren ab. Es ist eigentlich sehr, sehr viel passiert, aber dann doch relativ wenig. An einem Punkt erwähnen die Jugendlichen, dass es am Abend ein Geburtstagsfest gibt, und sie fragen sich: „Und? habt ihr schon Geschenke für das Geburtstagskind?“ So haben Sommerabende im Ländlichen für mich oft geendet. Das waren halt irgendwelche selbstorganisierten Partys auf dem Parkplatz, und es lief schlechter Techno, und man hatte ein bisschen Dosenbier dabei.

Aber im erzählerischen Sinne gebe ich dir recht: Man weiß nicht, was genau sich jetzt auflöst. Für mich ist es so: Bei diesen plötzlichen, unerwarteten Begegnungen gibt es einen inneren Prozess. Als Jugendlicher weiß man gar nicht, wohin mit diesem Gefühl, wenn man sich verliebt. Verlieben ist ein großes Wort, aber es passiert sehr schnell im Alter von 16 oder 17 Jahren. Und das Gefühl findet so ein bisschen ein Ventil in dieser Party. So nehme ich das wahr, aber ich würde es auch gerne offenlassen für den Zuschauer, die Zuschauerin, je nachdem, wie sie das empfinden.

Wie hast du mit den Schauspieler*innen gearbeitet? Du scheinst eine bestimmte Schauspieltechnik, die sehr reduziert ist, anzustreben. Wie hast du das erreicht? Sind es Laien oder Profis?

Teils, teils. Viele von den Jugendlichen sind Laien, allerdings Laien, die schon mal gespielt haben. Sie haben keine Schauspielausbildung, aber haben zum Teil in einem Kurzfilm oder so gespielt. Ein paar sind professionell in dem Sinne, dass sie eine Schauspielausbildung haben. Ich finde, Spiel kann oft etwas sehr Brüchiges haben, vor allem wenn man merkt, dass Leute unterschiedlich spielen. Das hat man oft, gerade bei deutschen Schauspielern. Die einen sind dem Theater verhaftet, die anderen eher filmverhaftet, und dadurch entstehen unterschiedliche Temperaturen, die schwer zusammenzubringen sind. Auch als zuschauende Person finde ich es schwer, wenn es diese unterschiedlichen Temperaturen gibt.

Meine Herangehensweise ist, erstmal aus der Reduktion heraus und sehr vorsichtig zu gucken, wo kommen welche Signale her und wie finden sich diese unterschiedlichen Temperaturen? Ich bin viel mehr an Gesten und Gestik interessiert als am gesprochenen Wort und der Art und Weise, wie in einer explosiven Weise Sprache gespielt wird. Der Film funktioniert mehr auf atmosphärischer Ebene, mehr in assoziativer Form. Man hat eine Art von Gestik und Blicke und die Lautstärke, mit der Leute sprechen. Schauen sie auf den Boden, schauen sie sich gegenseitig an? Für manche Schauspieler ist es sehr befremdlich, so einen Umgang zu finden. Das war dann auch Thema während des Drehs, manche meinten: „Ich fühle mich hier gerade echt lost. Ich weiß gerade gar nicht, was ich hier mache.“

Die zwei Hauptfiguren sind Laien, und es war wirklich ein wahnsinnig tolles Arbeiten, weil ich das Gefühl hatte, man spricht eine gleiche Sprache. Man spricht sehr viel über das Spiel, aber es wird sehr wenig hinterfragt im psychologischen Sinn. Ich weiß nicht, was der psychologische Grund ist, schneller zu laufen oder langsamer zu laufen, sondern ich kann nur technisch Hilfestellung geben mit: „Lauf mal langsamer.“ Warum das so ist, kann ich oft nicht begründen.

Deine Dialogtechnik ist auch eher atmosphärisch und körperlich. Eine der tollsten Szenen im Film ist diese unglaubliche Geschichte über die Wohnung, die irgendein Freund von einem anderen Freund hat, und in der man Pizza bestellt hat. Das ist ein fantastischer Monolog, der sich ins Nichts auflöst und der wirklich etwas Gestisches hat.

Ich fühle mich sehr hingezogen zu dieser bestimmten Art des Gelabers. Wie ich eingangs meinte, finde ich den informationellen Gebrauch von Sprache eher uninteressant. Gelaber finde ich aber nicht nur interessanter, weil ich es als Gelaber absurd oder besonders skurril oder lustig fände, sondern auch, weil ich finde, dass das, was dahinter liegt, dann umso sichtbarer wird. Das ist die innere Beschaffenheit der Figur, also eine Art von Sehnsucht oder eine stille Art der Verzweiflung, wie zum Beispiel in der Szene, die du beschreibst. Es steckt eine Art von Geltungsdrang drin, er möchte sich ein bisschen nach vorne spielen, merkt aber auf halber Strecke: Er weiß gar nicht, in welche Richtung er den Ball spielen soll, verzettelt sich in dieser total absurden, aber auch langweiligen und nichtssagenden Geschichte. Für mich steckt da etwas ganz Menschliches und ganz Zerbrechliches und sehr Feines drin, und das ist der Grund, warum ich so eine Szene aufschreibe und warum ich sie so inszeniere, wie ich sie inszeniere: Die Schärfe wandert von der Figur in den Hintergrund, und das zuschauende und zuhörende Kameraauge verliert den Fokus und driftet eigentlich so ein bisschen ab.

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