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Playlist: Complete Unknowns

Über Bob Dylan gelangt man relativ schnell zu rasend aufregender, sehr alter Musik, etwa von Blind Willie McTell, Blind Lemon Jefferson oder Furry Lewis, aber auch zu einst vergessenen Songs von Zeitgenoss*innen Dylans. Wir haben eine umfangreiche - aber auf keinen Fall vollständige - Playlist mit Songs von Vorbildern, Nachfolger*innen und Weggefährt*innen zusammengestellt.

Complete Unknowns – Liner Notes

Woody Guthrie

Die Playlist beginnt mit einigen Songs von Woody Guthrie, aus aktuellen Gründen mit zwei antifaschistischen Songs aus den vierziger Jahren. Dann geht es weiter mit einigen seiner bekanntesten Songs: „This Land is Your Land“, der Feier amerikanischer Wanderarbeiter „Pastures of Plenty“, und einer der „Dust Bowl Ballads“, die Guthrie 1940 bekannt machten. „I ain’t got a Home” war ein Song über die Erfahrung der Farmer*innen aus dem Mittleren Westen, vor allem aber aus Oklahoma, die durch die Staubstürme zwischen 1935 und 1938 und die Kreditpraktiken der Banken ihre Häuser und Farmen verloren und zu Wanderarbeiter*innen in Kalifornien wurden.

Woody Guthries Song „This Land is Your Land” ist in A COMPLETE UNKNOWN präsent, bevor Bob Dylan überhaupt auftritt. Pete Seeger singt die erste Strophe von Guthries Klassiker, nachdem er das Hearing des „House Committe of Unamerican Activities“ verlassen hat. Die „problematische“ Strophe des Songs ist nicht zu hören, auch nicht auf der aktuellen Edition einer Woody-Guthrie-Compilation die „This Land is Your Land“ betitelt ist. Die Zeilen:

As I was walking that ribbon of Highway
I saw a sign that said “private property”.
But on the other side it didn’t say nothing
This land was made for you and me

fehlen im Film, aber auch in einigen Versionen des Songs, wohl weil sie fürs Radio gedacht waren, wo solche „kommunistischen“ Phrasen unerwünscht waren.

Lead Belly

In Dylans „Song to Woody”, den Dylan (Timothée Chalamet) im Krankenhaus vor Pete Seeger und Woody Guthrie singt, lautet eine Strophe:

Here’s to Cisco an’ Sonny an’ Leadbelly too
An’ to all the good people that travelled with you
Here’s to the hearts and the hands of the men
That come with the dust and are gone with the wind

Cisco Houston, Lead Belly und Sonny Terry waren Wegbegleiter von Woody Guthrie. Cisco Houston trat regelmäßig mit Guthrie auf, Sonny Terry war Mundharmonika-Spieler und Sänger, der bereits in den zwanziger Jahren als Wandermusiker gearbeitet hatte und mit Blind Boy Fuller aufgetreten war. In der Playlist ist Houston mit „I Want Some of Your Pie” einem Hokum-Blues (Hokum sind anzügliche Blues-Songs, oft mit explizit sexuellem Inhalt) vertreten, und Terry mit einer Aufnahme von „Key to the Highway“, einem Blues-Klassiker von Terry und Brownie McGee, die bis in die siebziger Jahre gemeinsam auftraten.

Lead Belly (Huddie William Ledbetter) war der einflussreichste dieser Musiker. Die frühesten Aufnahmen seiner Songs wurden von John und Alan Lomax im Auftrag der National Library of Congress als „field recording“ 1933 auf Recherchereisen angefertigt, als Leadbelly wegen Mord im Gefängnis saß.

Pete Seegers Vokalgruppe „The Weavers“ hatten in den 40er Jahren einen ihrer größten Erfolge mit einer orchestralen Version von Leadbellys „Goodnight Irene“, dessen düsterste Strophe, „Sometimes I live in the Country/Sometimes I live in the Town/Sometimes I take a great notion to jump in the river and drown” wiederum Ken Kesey („Einer flog über das Kuckucksnest“) den Titel und wohl auch die Inspiration für seinen zweiten Roman „Sometimes a Great Notion“ lieferte. Es gibt zahlreiche Coverversionen, unter anderem von Tom Waits, Johnny Cash, Willie Nelson und Tom Petty.

Lead Bellys Song „Black Betty“ war in den siebziger Jahren ein Hit für die Rockband „Ram Jam“, und zuletzt hatten Nirvana mit ihrem Cover von „In the Pines“ aka „Where Did You Sleep Last Night“, einem Folksong über eine entflohene Sklavin, 1994 einen Hit. Dylan hat den Song ebenfalls live gecovered.

Harry Smiths Anthology of Folk Music

Der Sammler, Anthropologe, Filmemacher und Über-Hipster Harry Smith veröffentlichte 1952 die „Anthology of American Folk Music“. Die Anthology enthielt Blues-, Folk- und Cajun-Musik der zwanziger und dreißiger Jahre auf drei Alben, die mit „Ballads“, „Social Music“ und „Songs“ überschrieben waren und war von umfangreichen, eklektischen Liner Notes begleitet waren.

Die Anthology machte zunächst nur kleine Wellen, wurde im Lauf der Zeit aber zu einer Art Urknall des zweiten Folk-Revivals ab etwa 1957 und wirkt bis heute nach. Zahlreiche Songs wurden zu Klassikern, nicht nur der Folkszene. Bascom Lamar Lunsfordd, dessen „I Wish I Was a Mole in the Ground” ein subversiver Klassiker wurde, war ein Richter und Folklorist, der auch 1928 das erste „Mountain Dance and Folk Festival“ in North Carolina organisierte, das älteste Folk Festival der USA, das bis heute stattfindet. Bob Dylan coverte auf seinem ersten Album „See That My Grave is Kept Clean” von Blind Lemon Jefferson.

“Jesus Gonna Make up My Dyin’ Bed” von Blind Willie Johnson wurde bei Dylan zu „In My Time of Dyin”, dabei orientierte er sich aber eher an der späteren Aufnahme von Josh White. White war ein Folk- und Bluessänger der dreißiger und vierziger Jahre aus der Generation von Pete Seeger und den Weavers. Led Zeppelin nahmen ebenfalls eine Version des Songs auf. Die Mega-Rockband der siebziger Jahre ist berüchtigt dafür, dass Jimmy Page zahlreiche Cover von Bluessongs und Riffs von anderen Bands als eigene Kompositionen ausgab.

Zu den erfolgreichsten Covern der Anthology Songs gehört Nick Caves „Murder Ballads“-Album. „Henry Lee“ ist eine traditionelle Folk Ballade, die durch Dick Justices Version auf der Anthology bekannt wurde. Cave hat sich über viele Jahre an der Anthology und den dort vertretenen Musiker*innen abgearbeitet. Auch Holly Golightly, aus der britischen Garagenrock-Szene um Billy Childish, nahm 2007 eine Version auf.

Greenwich Village Folk Scene

1961 war das Greenwich Village und das Café Wha? ein Zentrum des zweiten Folk-Revivals. Der europäische Teil der Bewegung, vor allem in Großbritannien, später auch in Frankreich und anderen europäischen Staaten, nicht nur in Westeuropa, spielt für LIKE A COMPLETE UNKNOWN keine Rolle, war aber ebenso wichtig.

Die Folkszene war eine wilde Mischung aus Songwritern wie Phil Ochs und Bob Dylan, braven Vokalgruppen wie „Peter, Paul and Mary“, die „Blowin‘ in the Wind“ popularisierten, Überlebenden der Blues- und Folkszenen der dreißiger Jahre wie Mississippi John Hurt und Reverend Gary Davis, Resten des ersten Folkrevivals wie Pete Seeger, engagierten Musiker*innen wie Odetta und Joan Baez, die auch politisch aktiv waren, Puristen wie Dave van Ronk und Popsängerinnen wie Judy Collins, die zwar auch Songs schrieb, aber vor allem mit fett produzierten Versionen von Bob Dylans, Leonard Cohens und Joni Mitchells Songs Erfolg hatte. Traditionelle Folksongs sangen alle, aber nicht alle waren radikale Traditionalisten. Der Rest der Playlist präsentiert klassische Folksongs von Musiker*innen aus der Greenwich-Village-Szene, einige spätere Songs von Songwriterinnen und einige Vorkriegs-Songs, die auf anderen Wegen in den 60er und 70er Jahren populär wurden, wie Henry Thomas‘ „Bull Frog Blues“, der als „Going up the Country“ der Blues Archivare Canned Heat zur Hippie-Hymne wurde.

Den Schluss bilden zwei Songs von Blind Willie McTell und einer von Bob Dylans besten Songs über Blind Willie McTell, der zugleich eine Geschichte der Sklaverei in den USA und der Folk- und Blueskultur erzählt.

Relevante Filme

Tipp von Lukas

Like a Complete Unknown

‘Im Mittelpunkt stehen die mitreißenden Konzertszenen, die Dylans Songs meist in ihrer ganzen Länge zur Geltung kommen lassen.’