Die Welt von Bella Baxter (unaufhaltsam: Emma Stone) ist voll faszinierender Details. An den Wänden finden sich gestickte Reliefs aus schneeweißer Seide. An der Decke formt Stuck das Bild zwei ineinander verschlungener Ohren. An den Böden bilden Intarsien aus unterschiedlich farbigem Marmor Muster und Lebewesen. Noch ist Bella Baxter dabei, diese Welt zu entdecken, die noch unendlich scheint. Dazu lernt sie, langsam, ganz langsam, sich in der Sprache und in ihrem Körper zu bewegen. Schöpfer und Herrscher dieser Welt ist „Daddy-God“ Godwin Baxter (Willem Dafoe), ein verrückter, brillanter Erfinder, der von Narben und Blessuren gezeichnet ist, die die Experimente seines Vaters, der ebenfalls ein verrückter, brillanter Erfinder war, an ihm hinterlassen haben.
Godwin Baxter ist auch der Erfinder von Bella, und er hat den fleißigen Studenten Max McCandles (Ramy Youssef) angeheuert, um die Fortschritte seiner Kreation, die halb erwachsene Frau, halb ungeformtes Kind ist, zu dokumentieren. Aber davon weiß Bella nichts. Sie ahnt indessen, dass die Welt draußen größer ist als das Haus des Erfinders. Je mehr sie zur Besitzerin ihres Körpers und ihrer Sprache wird, umso dringender will sie diese Welt erkunden. Godwin Baxter hat diesen Moment gefürchtet, denn Bella ist ungehobelt, impulsiv, offenherzig, nicht gesellschaftsfähig. Wenn sie etwas will, hat sie die Vehemenz eines kleinen Kindes. BELLA WANTS! (Eben erst hat sie ihre Sexualität entdeckt. Begeistert zeigt sie der Haushälterin Mrs. Prim bei Tisch, wie man mit Obst masturbieren kann, bis Max ihr erklärt, dass man das nicht macht „in polite society“.) Aber niemand kann Bella aufhalten. NO NOW NO NEVER!
Als der Anwalt Duncan Wedderburn (dubios und sexy: Mark Ruffalo) ihr ein zwielichtiges Angebot macht, geht sie mit ihm auf Reisen. POOR THINGS nach dem Roman "Poor Things: Episodes from the Early Life of Archibald McCandless M.D., Scottish Public Health Officer" von Alasdair Gray folgt Bella auf ihrer Expedition, die sie nach Lissabon, aufs Meer, nach Paris und zurück nach Schottland führen wird. Die Stationen diese Reise sind dabei so skurril und liebevoll ausgestattet wie Godwins Steampunk-Anwesen. Es sind opulente Orte purer Fantasie, in denen Luftschiffe vor gemalten Hintergründen entlangziehen, und an denen entweder verschwenderischer Luxus oder abgrundtiefes Elend herrschen. Bella entdeckt die Freude am Sex (den sie „furious jumping“ nennt), lernt die polite society kennen, trifft einen zynischen Philosophen und dessen weltgewandte Begleiterin (Hannah Schygulla), erlebt Grausamkeit und versucht zu helfen, entdeckt den Sozialismus und arbeitet in einem Bordell.
Bellas Entdeckung der Welt ist eine fantastische Retro-Sci-Fi-Reise, die an Meliès, Guy Maddin und Antoni Gaudí erinnert. Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte, ein philosophisches Traktat, ein Lautgedicht und die Geschichte einer Emanzipation: Immer wieder sind es Männer, die versuchen, Bella Schranken zu setzen: zunächst Godwin Baxter aus „väterlicher Sorge“, dann Duncan Wedderburn aus „Leidenschaft“, schließlich kommt noch ein Ex-Ehemann aus dem Hut und setzt Ehe mit Kerker gleich. Immer wieder ist das umkämpfte Territorium ihr Körper, ihre selbstbestimmte, fröhliche Sexualität, die sie auch im Bordell behauptet. Ihr Vorteil ist dabei, dass sie von den Konventionen, mit denen alle um sie herum aufgewachsen sind, nichts weiß. Ihre Superkraft ist, dass sie sich nicht um sie schert. Sie bringt die Welt um sich herum zur Implosion, weil sie sich niemals schämt, direkte Fragen stellt und sagt, was sie denkt. Nicht mehr. Nicht weniger.
Das verbindet Bella mit ihrem Ziehvater Godwin und seinem Assistenten Max, mit Wissenschaftlerinnen und Abenteurern und Revolutionärinnen aller Zeiten, denn wie diese ist sie eine Entdeckerin, eine Finderin und Aussprecherin der Wahrheit, egal wie diese aussieht. POOR THINGS entführt in eine - von den Interieurs über die Zwischentitel bis hin zu Kostümen, die die Mode des späten 19. Jahrhunderts mit Futurismus und Feminismus fusionieren – atemberaubend ausgestattete Traumwelt, ist im Kern aber ein Plädoyer für eine beherzte Auseinandersetzung mit der Gegenwart, koste es, was es wolle. (INDIEKINO Magazin, 01/2024)