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Hendrike über MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG

MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG erzählt die berauschende Geschichte einer Emanzipation im Italien der 1940er Jahre in unerwarteten Schritten.

Paola Cortellesis MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG ist ein Film für alle. Der Film ist unterhaltsam, schwungvoll erzählt und grundsätzlich fröhlich und zugleich klug, ehrlich und voller filmischer Ideen. Alles sieht vertraut aus, aber genau so hat das noch nie jemand erzählt. In Italien haben C’E ANCORA DOMANI inzwischen über 5 Millionen Menschen gesehen – mehr als BARBIE.

Im Schwarzweiß der Neorealisten ist MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien angesiedelt. Die Frauen schwatzen auf dem Hof, die GIs verteilen Schokolade, alte Schlager verbreiten wohlige Sentimentalität – und die Männer schlagen ihre Frauen. Delia (Cortellesi) ist Mutter von zwei Jungen und einer intelligenten, fast erwachsenen Tochter, vor allem aber ist sie die Ehefrau von Ivano, dem Schläger. Der kleinste Fehltritt kann ihn zur Explosion bringen. Man muss das nur einmal sehen (und auch da findet Cortellesi einen Weg, die Gewalt spürbar zu machen, ohne sie zu wiederholen) dann weiß man Bescheid. Ab da zuckt man zusammen, wenn Delia sich ungeschickt anstellt, weiß, was es bedeutet, wenn die Kinder aus dem Zimmer müssen, oder Iva sich über die Hände streicht. Alle wissen das. Die Nachbarinnen gucken betrübt, die Freundin versucht, Hilfe zu leisten, die Tochter wirft ihrer Mutter vor, dass sie bleibt, aber Delia sieht für sich keinen Weg, der aus dem Alltag als unterbezahlte Hilfsarbeiterin und Mutter, aus der Souterrainwohnung, weg vom missbräuchlichen Mann und vom brutalen und dummen Schwiegervater führen könnte. Bis sie eines Tages einen Brief erhält, den sie erst weglegt und dann wieder hervorholt, und der alles ändert.

MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG erzählt die berauschende Geschichte einer Emanzipation in unerwarteten Schritten, und besonders schön dabei ist, dass Delia von der Erzählung niemals klein gemacht wird. Von den Umständen, ja, von ihrer Regisseurin, niemals. Gleich am Anfang geht Delia nach einem grauenhaften Morgen, an dem Mann und Schwiegervater wieder alles gegeben haben, durch die Stadt zum Markt. Cortellesi macht ihren Gang zum energiegeladenen Sound des Songs „Calvin“ der John Spencer Blues Explosion zum Powerwalk – lange, lange, bevor Delia sich selbst so fühlt. Einfach, weil ihr das zusteht, jederzeit, weil die Straße und ihr Leben ihr gehören, a priori. (INDIEKINO Magazin, 04/2024)

Hendrike Bake

MA Filmwissenschaft University College Dublin. Seit 2000 in Kinosachen unterwegs als Filmvorführerin, Kuratorin, Organisatorin und Filmkritikerin. Herausgeberin des INDIEKINO Magazins. Der beste Film aller Zeiten ist DAYS OF BEING WILD.

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‘Alles sieht vertraut aus, aber genau so hat das noch nie jemand erzählt.’