Todd Haynes (CAROL, I’M NOT THERE, FAR FROM HEAVEN, SAFE) ist einer der renommiertesten US-Independent-Regisseure. In seinem neuem Film MAY DECEMBER entfaltet er allmählich das Beziehungsgeflecht, die Machtverhältnisse und Traumata einer ungewöhnlichen Familie. Die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portmann) soll die Rolle der Lehrerin Gracie (Julianne Moore) in einem Film über deren Affäre und spätere Heirat mit ihrem 13-jährigen ehemaligen Schüler spielen.
Zur Recherche besucht sie Gracie, die wegen der Affäre im Gefängnis saß, und deren Familie. Gracie ist 59, ihr Ex-Schüler und heutiger Ehemann Joe (Charles Melton) ist inzwischen 36. Sie haben drei gemeinsame Kinder, die älteste Tochter ist im College, die jüngeren Zwillinge schließen gerade die Highschool ab und werden in Kürze das Haus verlassen. Gracie hat weitere, erwachsene Kinder aus ihrer früheren Ehe und Enkel, die ebenfalls Teenager sind. Joe arbeitet als Radiologie-Techniker, Gracie verkauft selbstgebackene Kuchen. Elizabeth trifft zu einem Nachbarschaftsbarbecue ein, fast eine Idylle.
Die berühmte Schauspielerin Elizabeth als Beobachterin in den Mikrokosmos der Familie eintauchen zu lassen, ist ein raffinierter Kniff. Elizabeth beteuert, in ihrem Film wolle sie „die Wahrheit“ zeigen und mehr Verständnis für Gracie erzeugen. Dass es ihr darum mit Sicherheit nicht geht, wird spätestens deutlich, wenn Elizabeth die Erregung beim ersten Sex zwischen Joe und Gracie am Originalschauplatz, dem Lagerraum eines Haustiergeschäftes probt. Elizabeth geht es darum, sich zu zeigen. Gracie geht es um Verschleierung und Manipulation.
Julianne Moore und Natalie Portman spielen beide oft neurotische oder seelisch belastete Frauen, aber ihre Darstellungsweise ist völlig gegensätzlich und entspricht hier exakt den Figuren. Moore spielt mit maximalem Understatement, während ihr Körper stets angespannt wirkt. Portmanns expressionistischer Darstellungsstil sucht nach dem maximalen Ausdruck. Zwei Beispiele: Gracie (Moore) manipuliert ihre Tochter Mary während einer Kleiderprobe gnadenlos: „Liebling, ich bin so stolz auf dich. Du bist so mutig, deine Arme so zu zeigen und dich einfach nicht um diese völlig unrealistischen Schönheitsideale zu scheren“. Moore liefert die Sätze im freundlichsten Ton ab, ohne mit der Wimper zu zucken oder die Verletzungsabsicht auch nur anzudeuten. Gracie hat ihre Verstellungskunst und ihr Mantra, es sei alles gut, vollständig verinnerlicht, und Moores zurückgenommene, präzise Darstellung lässt nur selten ein Licht hinter die Fassade. Wenn Elizabeth dagegen ein Foto von Gracie und ihrer im Gefängnis geborenen Tochter auffaltet und die Ketten an Gracies‘ Füßen sieht, zeigt Nathalie Portman Elizabeths Erschütterung mit einem Augenaufreißen und einem deutlichen Schlucken, als ginge es darum, auch die zwanzigste Reihe im Theater zu beeindrucken.
Todd Haynes baut eine komplizierte Familienmaschine, aus der Teile schon herausgebrochen sind, nicht ohne Schaden zu nehmen. Das Entkommen kostet Kraft und hinterlässt Wunden. Joe züchtet Monarch-Schmetterlinge, die Gracie „bugs“ (Käfer) nennt. Die Schmetterlingsmetapher zieht sich durch den Film und hält die Hoffnung auf Befreiung offen, aber ob es jemandem gelingt, sich zu verwandeln und zu fliehen, bleibt eine offene Frage. (INDIEKINO Magazin, 06/2024)