Filmgespräch

Regisseurin Maura Delpero über VERMIGLIO: "Ich mag abgelegene Orte, weil sie eine filmische Konzentration ermöglichen."

Maura Delpero arbeitete als Lehrerin in Bologna und drehte zunächst Dokumentarfilme. Ihr Spielfilmdebüt MATERNAL beruhte auf vier Jahren der Recherche in von Nonnen geführten Heimen für junge alleinstehende Mütter in Argentinien. Mit ihrem aktuellen Film VERMIGLIO gewann sie den Silbernen Löwen (Großer Preis der Jury) beim Filmfestival in Venedig 2024.

Pamela Jahn: Frau Delpero, Ihren eigenen Aussagen zufolge hat ein Traum über Ihren Vater Sie dazu bewogen, diesen Film zu drehen. Glauben Sie an so etwas wie innere Eingebung?

Ich träume oft und versuche immer, mich zu erinnern. Ich mache mir sogar Notizen über das Geträumte, so gut es geht. Aber ich muss sagen, dass ich so etwas noch nie zuvor erlebt habe. Mein Vater kam mich im Traum besuchen. Er war in sein Elternhaus in Vermiglio zurückgekehrt. Sein Gesicht verschmolz mit dem seines kindlichen Ichs. Ich war glücklich, ihn zu sehen, aber auch verängstigt, weil ich in dem Moment das Gefühl hatte, er stünde wirklich vor mir. Es war wie eine filmische Vision, aber zunächst dachte ich nicht, dass daraus mehr werden würde.

Wie bekannt war Ihnen Ihre Familiengeschichte, bevor Sie sich für den Film intensiver damit beschäftigten?

Der Traum war wie eine Offenbarung. Ich verspürte plötzlich den großen Wunsch, besser verstehen zu wollen, was vor mir, vor meiner Geburt geschehen war. Ich habe in der Zeit, als ich am Drehbuch gearbeitet habe, selbst ein Baby bekommen. Ein bisschen stand dahinter also auch die Idee: Okay, vor mir liegt eine neue Zukunft, aber was ist mit meiner Vergangenheit? Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dass ich all diese Erinnerungen an meine eigene Kindheit in mir trug. Es war wie eine versteckte Welt voller Geschichten, aus denen ich Ideen schöpfen konnte.

Welche konkreten Parallelen gibt es zwischen der Familie im Film und Ihrer eigenen?

Alles in Vermiglio ist von meinen Vorfahren inspiriert. Es ist das Dorf, in dem mein Vater geboren wurde. Vor allem mein Großvater war eine Inspiration, weil er nicht nur das Oberhaupt einer Großfamilie war, sondern eben auch die Schule des Ortes geleitet hat. Damals war ein Lehrer in einer kleinen Gemeinde wie dieser eine sehr wichtige Person. Gleichzeitig handelt es sich um eine typische Familie der damaligen ländlichen Gesellschaft, mit einer Mutter, die immer wieder Kinder bekommt und den ganzen Tag in der Küche ackert. Irgendwann gibt es mehr Nachwuchs als Betten und viele Geheimnisse, weil jeder zwar Teil einer Gemeinschaft, aber vor allem auch viel allein für sich ist.

Sie kommen eigentlich aus dem Dokumentarfilm-Bereich. Was hat Sie zum Wechsel ins Fiktionale verleitet?

Es war ein organischer Übergang. Ich habe gemerkt, dass meine Filme immer mehr in Richtung Fiktion gingen, und fand es spannend, die Grenzen auszuloten. Die Ästhetik spielt dabei eine wesentliche Rolle. Meine letzten dokumentarischen Arbeiten hatten jeweils fiktionale Charaktere, während ich in Vermiglio großen Wert auf das Authentische, das Ursprüngliche gelegt habe.

Ein entscheidender Aspekt in der Hinsicht ist der Ton.

Ja, weil wir genauso viel hören wie sehen. Deshalb gibt es ja auch das Wort audiovisuell. Für mich war von Anfang an klar, dass Stille extrem wichtig sein würde - und die Kraft natürlicher Geräusche. Es ging mir ganz konkret um das räumliche Empfinden, nicht nur um die historisch akkurate Abbildung der damaligen Verhältnisse.

Was macht Vermiglio für Sie aus filmischer Sicht so besonders als Setting?

Ich mag abgelegene Orte, weil sie eine filmische Konzentration ermöglichen. An der kleinen Gemeinde lässt sich eine Fallstudie der Menschheit an sich durchführen. Außerdem hat mich die Idee fasziniert, vom Krieg zu erzählen, ohne dass er präsent ist. Es gibt einen Dialog zwischen dem Leben derjenigen, die geblieben sind, und den Erfahrungen derer, die an der Front gekämpft haben und nun zurückkehren. Wenn etwa der kleine Bruder von Lucia den fremden Soldaten mit großen Augen ansieht, weil er eben genau das repräsentiert, was die Existenz aller Dorfbewohner beeinflusst, ohne dass sie die Gefahren und die Brutalität des Krieges unmittelbar zu spüren bekommen. Dennoch bekommen sie die Auswirkungen zu spüren, nur spricht man nicht darüber. Das Thema wird totgeschwiegen, als würde sich das Problem auf diese Weise beheben lassen. Nichts wird erklärt.

Ist Vermiglio für Sie ein mysteriöser Ort?

In gewisser Hinsicht schon, wie jeder Ort hat auch dieser seine Geheimnisse. Aber man muss auch sehen: Ein Großteil der Lüge und Heimlichkeiten resultiert aus der Angst, sich vor den anderen zu schämen. Als Lucia ihr Unglück widerfährt, macht sich ihre Tante mehr Gedanken darüber, was die Leute sagen werden, als darüber, was das für die junge Frau bedeutet. So bleibt Vieles unter der Oberfläche, weil es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen.
Ich gehöre noch einer Generation an, in der es viel Raum für Fantasie und Unerfahrenheit gab.

Sehen Sie die Geschichte, die Sie in VERMIGLIO erzählen als eine Art filmischen Bildungsroman?

Vielleicht, die Vorstellung gefällt mir. Mich hat es fasziniert, die Geschichten dieser Menschen zu verfolgen, die langsam erwachsen werden, egal wie alt sie sind. Ihre Schicksale mögen verschieden sein, aber zusammen bilden die Figuren eine Einheit. Gleichzeitig versuche ich in meinen Filmen aber immer auch, mich sprachlich zurückzuhalten und zu einem möglichst verdichteten Ganzen zu gelangen, nicht auszuschweifen, wie es im Literarischen oft der Fall ist. Ich habe mich auch diesmal sehr bemüht, die Handlung präzise voranzutreiben und mich nicht etwa in der Schönheit der Natur zu verlieren. Bei einer so atemberaubenden Landschaft kann das leicht passieren.

Dennoch spielt die Natur unweigerlich eine bedeutende Rolle. Ein Bild, das in Erinnerung bleibt, ist Lucia, wenn Sie oben am Quell des riesigen Wasserfalls steht.

Der erste Gedanke, der einem kommt, ist, dass sie ihr Leben aufgeben will. Aber in Wirklichkeit flüchtet sie sich in die Natur. Ihr Vater nennt sie nicht umsonst eine „Bergziege“. In diesem Sinne kehrt sie zu ihren Wurzeln zurück, um Frieden zu finden und einen Ausweg. Es ist ein Ort, an dem sie weinen und ihren Schmerz herauslassen kann. Wo niemand sie als Opfer abstempelt oder anklagt. Und wo niemand sie verurteilt. Das Wasser gleicht ihren Tränen – für mich hat dieses Bild auch eine starke metaphorische Kraft hat.

Wie hätte Ihr Vater Sie genannt?

Auf keinen Fall ein Mädchen der Berge. Ich bin meinen Wurzeln früh entflohen und habe immer in großen Städten gewohnt.

Könnten Sie sich jemals vorstellen, in einem Dorf wie Vermiglio zu leben?

Wahrscheinlich nicht. Aber ich habe großen Respekt für die Menschen dort. Ich denke, man gewinnt viel Freiheit, wenn man in die Stadt zieht, aber man verliert auch den Schutz, den eine kleine Gemeinschaft bieten kann. Lucia repräsentiert in gewisser Weise die gesellschaftliche Veränderung, die damals einsetzte, den Übergang vom ländlichen zum urbanen Raum, vom Provinziellen zum Industriellen.

Anders als in Ihrem vorherigen Filmen konzentriert sich die Geschichte diesmal vordergründig auf eine zentrale männliche Figur, den Vater und Lehrer Cesare, aber Ihr Fokus bleibt auf der weiblichen Perspektive. Warum?

Weil der weibliche Blick und überhaupt Frauenfiguren in der Vergangenheit zu oft an den Rand gedrängt wurden. Das ist ein Grund. Aber letztendlich habe ich geschrieben, was ich tief in mir empfunden habe. In meinen bisherigen Filmen gab es vielleicht keine männlichen Protagonisten, dennoch haben Männer darin eine enorme Präsenz außerhalb des Bildrahmens. Man spürt sie in der Abwesenheit.

Cesare hat eine große Leidenschaft für Musik, für die Künste an sich, was die Familie zusätzlich finanziell belastet. Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?

Dass Kultur eine Antwort auf den Nihilismus des Krieges sein kann. Cesare ist eine Art Antimilitarist. Das ist einer seiner guten Seiten. Natürlich hat er auch schlechte, aber trotz - oder gerade wegen - seiner Widersprüchlichkeit ist er einem irgendwie sympathisch. Ich hätte mir als Kind einen Lehrer wie ihn gewünscht.

Als Vater und Familienoberhaupt ist er sehr hart. Im Kontrast dazu stehen die zarten Sehnsüchte seiner Töchter, nächtlichen Gespräche, sexuelle Entdeckungen, ihre kleinen und großen Geheimnisse. Wie frei sind Sie selbst aufgewachsen?

Ich gehöre noch einer Generation an, in der es viel Raum für Fantasie und Unerfahrenheit gab. Damals sprach man nicht offen über seine Gefühle, dadurch staute sich vieles auf. Und ich fand es wichtig, sozusagen unter die Bettdecken dieser jungen Frauen zu schauen, weil sie damals genauso ihre Sexualität entdeckt haben wie die Kids heute, nur eben heimlich, nicht via Instagram. Ich erinnere mich, dass meine Freundinnen und ich so neugierig waren und aufgeregt, weil wir überhaupt nicht einordnen konnten, was mit uns geschah. Die Kinder von heute wissen ja alles, oder sie glauben es zumindest.
Mutterschaft ist ein Thema, das in Ihren Filmen immer wieder auftaucht.

Verkörpert Lucia mit der Entscheidung, die sie für sich trifft, eine moderne Frau?

Der Film spielt zu einer Zeit, in der Frauen aus der Not heraus stark sein mussten. Es ging dabei nicht um feministische Ideen, das kam alles erst später. Lucia kämpft sich aus ihrer Opferrolle heraus, aus der Stigmatisierung, die sie in der Dorfgemeinschaft erlitten hat. Als Mutter gewinnt sie die Kontrolle über ihr Leben zurück. Ihre Tochter gibt ihr Hoffnung, eine Zukunft. Das muss nicht immer so sein. In meinen Filmen untersuche ich komplexe Formen der Mutterschaft. Aber sie helfen den Figuren immer, Schwierigkeiten zu überwinden und auf menschlicher Ebene zu wachsen.

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