Pamela Jahn: Frau Fingscheidt, Ronas Geschichte im Film basiert auf den Tagebucheinträgen der schottischen Autorin Amy Liptrot und dem gleichnamigen Roman, der daraus entstanden ist - ein persönliches Schicksal mit universellem Charakter?
Nora Fingscheidt: Für mich ist es vor allem ein Buch über Heilung auf vielen Ebenen. Das Entscheidende ist der innere Prozess, den die Hauptfigur durchlebt, im Positiven wie im Negativen Sinne. Ihr unermüdlicher Versuch, auf irgendeine Weise Frieden mit den Extremen in sich selbst zu schließen, hat mich tief berührt. Im Film findet Rona ihren Weg aus dem eigenen Wahnsinn auf eine schmerzliche, aber letztlich kathartische Art und Weise.
Ähnlich wie Benni in SYSTEMSPRENGER ist auch Rona eine junge Kämpferin. Gehören die Filme für Sie in der Hinsicht zusammen?
Ja, total. Ich würde sogar auch mein Netflix-Projekt THE UNFORGIVABLE dazu zählen. Dort steht ebenfalls eine weibliche Figur im Zentrum, die sich mit ihren inneren Dämonen auseinandersetzen muss. Es geht in keinem der drei Fälle um gut gegen böse, sondern um drei Randgestalten, drei Frauen in verschiedenen Generationen und Phasen ihres Lebens, die immer irgendwie Kriegerinnen in eigener Mission sind.
Bei THE OUTRUN kommt jedoch hinzu, dass sich Ihre Protagonistin sowohl mit den Menschen in ihrem Umfeld als auch konkret mit dem Ort auseinandersetzen muss, in dem sie aufgewachsen ist und zu dem sie zurückkehrt.
Deswegen haben wir uns entschieden, den Film auf drei verschiedenen Ebenen zu erzählen: Einmal in Orkney, dem Hier und Jetzt, wo Rona gestrandet ist, ausgenüchtert und überfordert mit der Welt. Wo sie nicht richtig weiß, wohin, vor oder zurück. Dann gibt es die Rückblenden in ihre Zeit in London, an die sie sich erst total verklärt erinnert und sich dann aber immer ehrlicher auseinandersetzt. Und schließlich ist da noch die sogenannte „Nerd“-Ebene, die Ronas Gedankenwelt beschreibt, auch die Auseinandersetzung mit der Natur, mit ihrer Heimat.
Letztere scheint für Sie künstlerisch eine Art Spielwiese gewesen zu sein, in der Sie sich auch formal viele Freiheit genommen haben?
Ja, wir arbeiten hier mit Archivmaterial, Animation, allem Möglichen, weil die Gedanken auch grenzenlos sind. Dagegen haben wir die Tagesbucheinträge, die man aus dem Off hört, fast alle eins zu eins aus der Romanvorlage übernommen, weil ich unbedingt diese besondere Poesie erhalten wollte, die darin liegt.
Wie genau haben Sie sich darüber hinaus an den realen Ereignissen orientiert?
Es ist natürlich eine riesen Verantwortung, wenn man einen Film über einen anderen Menschen und dessen intimste Erfahrungen macht. Ich weiß, dass sowohl Amy als auch ihre Familie danach für immer mit dem Ergebnis leben müssen. Trotzdem haben wir nicht davor zurückgeschreckt, auf eine brutal ehrliche Weise in Amys Vergangenheit zu schauen. Mir war dabei allerdings sehr wichtig, dass sie bei der Entstehung des Films von Anfang an größtmöglich Zugang hatte. Ich brauchte zwar beim Schreiben erst mal ein bisschen Zeit für mich alleine, um überhaupt eine Struktur und einen Rhythmus für mich zu finden. Aber dann ist Amy miteingestiegen. Vor allem, wenn es um Auslassungen, Veränderungen oder Dramatisierungen ging, war ihr Mitarbeit extrem hilfreich. Es musste immer klar sein, dass sich das alles für sie trotzdem aufrichtig anfühlt.