Filmgespräch

Nora Fingscheidt über THE OUTRUN: „Warum verletzen wir immer die Menschen, die uns am liebsten sind?“

Gleich mit ihrem ersten Langspielfilm SYSTEMSPRENGER (2019) über ein neunjähriges Mädchen, das mit seinen Wutanfällen Betreuer*innen und Sozialeinrichtungen an die Grenzen bringt, wurde Nora Fingscheidt in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen. Auch in ihren beiden nächsten Filme kämpfen Frauen sich durch: In THE UNFORGIVABLE (2021) versucht Ruth nach zwanzig Jahren im Gefängnis Fuß zu fassen, in THE OUTRUN zieht Rona auf die Insel ihrer Kindheit, um vom Alkoholismus loszukommen.

Pamela Jahn: Frau Fingscheidt, Ronas Geschichte im Film basiert auf den Tagebucheinträgen der schottischen Autorin Amy Liptrot und dem gleichnamigen Roman, der daraus entstanden ist - ein persönliches Schicksal mit universellem Charakter?

Nora Fingscheidt: Für mich ist es vor allem ein Buch über Heilung auf vielen Ebenen. Das Entscheidende ist der innere Prozess, den die Hauptfigur durchlebt, im Positiven wie im Negativen Sinne. Ihr unermüdlicher Versuch, auf irgendeine Weise Frieden mit den Extremen in sich selbst zu schließen, hat mich tief berührt. Im Film findet Rona ihren Weg aus dem eigenen Wahnsinn auf eine schmerzliche, aber letztlich kathartische Art und Weise.

Ähnlich wie Benni in SYSTEMSPRENGER ist auch Rona eine junge Kämpferin. Gehören die Filme für Sie in der Hinsicht zusammen?

Ja, total. Ich würde sogar auch mein Netflix-Projekt THE UNFORGIVABLE dazu zählen. Dort steht ebenfalls eine weibliche Figur im Zentrum, die sich mit ihren inneren Dämonen auseinandersetzen muss. Es geht in keinem der drei Fälle um gut gegen böse, sondern um drei Randgestalten, drei Frauen in verschiedenen Generationen und Phasen ihres Lebens, die immer irgendwie Kriegerinnen in eigener Mission sind.

Bei THE OUTRUN kommt jedoch hinzu, dass sich Ihre Protagonistin sowohl mit den Menschen in ihrem Umfeld als auch konkret mit dem Ort auseinandersetzen muss, in dem sie aufgewachsen ist und zu dem sie zurückkehrt.

Deswegen haben wir uns entschieden, den Film auf drei verschiedenen Ebenen zu erzählen: Einmal in Orkney, dem Hier und Jetzt, wo Rona gestrandet ist, ausgenüchtert und überfordert mit der Welt. Wo sie nicht richtig weiß, wohin, vor oder zurück. Dann gibt es die Rückblenden in ihre Zeit in London, an die sie sich erst total verklärt erinnert und sich dann aber immer ehrlicher auseinandersetzt. Und schließlich ist da noch die sogenannte „Nerd“-Ebene, die Ronas Gedankenwelt beschreibt, auch die Auseinandersetzung mit der Natur, mit ihrer Heimat.

Letztere scheint für Sie künstlerisch eine Art Spielwiese gewesen zu sein, in der Sie sich auch formal viele Freiheit genommen haben?

Ja, wir arbeiten hier mit Archivmaterial, Animation, allem Möglichen, weil die Gedanken auch grenzenlos sind. Dagegen haben wir die Tagesbucheinträge, die man aus dem Off hört, fast alle eins zu eins aus der Romanvorlage übernommen, weil ich unbedingt diese besondere Poesie erhalten wollte, die darin liegt.

Wie genau haben Sie sich darüber hinaus an den realen Ereignissen orientiert?

Es ist natürlich eine riesen Verantwortung, wenn man einen Film über einen anderen Menschen und dessen intimste Erfahrungen macht. Ich weiß, dass sowohl Amy als auch ihre Familie danach für immer mit dem Ergebnis leben müssen. Trotzdem haben wir nicht davor zurückgeschreckt, auf eine brutal ehrliche Weise in Amys Vergangenheit zu schauen. Mir war dabei allerdings sehr wichtig, dass sie bei der Entstehung des Films von Anfang an größtmöglich Zugang hatte. Ich brauchte zwar beim Schreiben erst mal ein bisschen Zeit für mich alleine, um überhaupt eine Struktur und einen Rhythmus für mich zu finden. Aber dann ist Amy miteingestiegen. Vor allem, wenn es um Auslassungen, Veränderungen oder Dramatisierungen ging, war ihr Mitarbeit extrem hilfreich. Es musste immer klar sein, dass sich das alles für sie trotzdem aufrichtig anfühlt.

Saoirse Ronan spielt nicht nur die Hauptrolle, sondern hat den Film mitproduziert. Inwiefern hat das Ihre Zusammenarbeit beeinflusst?

Weil es von Anfang an klar war, habe ich schon das Buch mit ihr im Kopf gelesen, und das war ein totales Geschenk. Saoirse ist eine Schauspielerin, die es schafft, eine derart intime Beziehung mit der Kamera einzugehen, dass man ihr auch beim Zähneputzen zugucken möchte. Gleichzeitig war die Rolle gewissermaßen Neuland für sie, weil sie sonst oftmals sehr souveräne Figuren spielt. Das hat die Sache für uns beide nochmal spannender gemacht.

Warum zieht es Sie immer wieder hin zu Figuren, die mit aller Kraft gegen ihr Umfeld und das eigene Ich angehen?

Das sind immer Bauchentscheidungen. Auch dass es drei weibliche Figuren hintereinander waren, ist eher dem Zufall geschuldet. Aber sicher hat es nicht zuletzt damit zu tun, dass mir ihre Perspektive auf die Welt einfach näher ist. Davon abgesehen kann ich diese Art der Selbstsabotage sehr gut nachvollziehen. Und überhaupt: Warum verletzen wir immer die Menschen, die uns am liebsten sind? Das macht überhaupt keinen Sinn, aber trotzdem kennt dieses Gefühl jeder von uns.

Anders als Benni in SYSTEMSPRENGER scheint Rona ihrer Zukunft zuversichtlicher gegenüberzustehen.

Ich finde es bemerkenswert, wie jemand es schafft, aus dieser inneren Hölle auszubrechen. Menschen, die nicht alkoholkrank sind, können oft gar nicht nachvollziehen, wie schwer es ist, nüchtern glücklich zu sein. Das ist ein langwieriger, unheimlich anstrengender Prozess. Nicht umsonst zählen diese Menschen auch nach Jahren noch jeden einzelnen Tag, den sie überstanden haben, ohne rückfällig zu werden. Und wenn wir mal ehrlich sind, findet sich entweder in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis fast immer jemand, der mit einer gewissen Art von Sucht nicht klarkommt. Gerade Alkohol ist so präsent in unserem Alltag. Man kann dem gar nicht entkommen. Ich habe enormen Respekt davor, dass es Amy gelungen ist und sie jetzt wieder nach vorne schauen kann.

Ist der Alkoholismus eines der größten Problem in unserer Gesellschaft?

Wir stehen vor so vielen Herausforderungen mit unseren Schönheitsidealen und Selbstbildern, den sozialen Medien und dem Leistungsdruck. Interessant finde ich, dass der Alkoholismus eine uralte Krankheit ist, die es bereits seit Beginn der Menschheit gibt. Und weil unser Umgang damit auf der einen Seite so normal ist und die Sucht auf der anderen Seite bis heute so wenig verstanden wird, müssen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen, wenn wir irgendwann weiterkommen wollen.

Können Sie es nachvollziehen, das sich immer mehr Menschen in irgendeine Art von Sucht flüchten?

Ja. Ich selbst bin definitiv auch ein zu Suchtverhalten neigender Mensch, aber bei mir sind es eher Zucker und Arbeit, wo ich keine gesunde Balance hinkriege.

Man kann die verschiedenen Handlungsebenen, die Sie bereits angesprochen haben, auch an Ronas wechselnder Haarfarbe erkennen. Ging es dabei darum, eine Art von Orientierung zu vermitteln, wenn es in ihrem Kopf allzu chaotisch wird?

Man kann den Film auf verschiedene Weise schauen: Die eine ist, sich einfach zurückzulehnen und emotional mitzugehen. Dann ist es eigentlich egal, wo sich die Figur gerade aufhält. Man versteht trotzdem, wo sie sich mental befindet. Will man Ronas Verhalten jedoch etwas genauer analysieren und jeden Schritt auf ihrem Weg aus der Krankheit verstehen, dann hilft es vielleicht, ein bisschen mehr auf die Haare zu achten. Darüber kommt man dann hoffentlich ganz gut mit.

Die Dreharbeiten auf Orkney, einer kleinen Inselgruppe vor der Nordostküste Schottlands, waren sicher nicht einfach. Sind Sie selbst ein Naturmensch?

Ich bin unheimlich gerne draußen auf dem Land und vermisse es in meinem Alltag manchmal sehr, raus zu kommen. Vor allem seit meinem Dokumentarfilm OHNE DIESE WELT über eine deutschstämmige Mennoniten-Gemeinde, die im Norden Argentiniens wie im 18. Jahrhundert lebt. Die Menschen wissen allerdings nicht einmal, wo auf dem Planeten sie sich genau befinden, weil sie nur die Bibel als Schulbuch haben. Dort haben wir zweieinhalb Monate ohne fließend Wasser und Strom gelebt. Telefone, Radios und Musik verbietet ihre Religion. Wir sind nur in Pferdekutschen rumgefahren. Da habe ich gemerkt, wie wenig man eigentlich zum Leben braucht, wenn man sich ganz auf die Natur einlässt.

Hat Sie dieser Ausflug ins Dokumentarische auch im Hinblick auf Ihre Arbeit als Regisseurin geprägt?

THE OUTRUN ist für mich ein Mittelding zwischen Fiktion und einem dokumentarischen Ansatz. Diese Mischform finde ich eigentlich sehr schön.

War es eine bewusste Entscheidung, nach SYSTEMSPRENGER erst in den USA und jetzt in England zu arbeiten?

Zwischen den beiden Projekten besteht ein riesen Unterschied. THE UNFORGIVABLE war ein Angebot, das an mich herangetragen wurde und das ich absolut nicht ablehnen konnte. Ein großes, amerikanisches Projekt. Diese Chance auszuschlagen, hätte ich mir wahrscheinlich niemals verziehen. THE OUTRUN wiederum ist eine europäische Ko-Produktion, zwar englischsprachig, aber dahinter steht die SYSTEMSPRENGER-Crew. Das sind die gleichen Leute, mit denen ich schon auf der Filmhochschule war. Natürlich haben wir in England und in Schottland gedreht, aber die ganze Postproduktion fand in Deutschland statt.

Haben Sie Lust, auch wieder in Ihrer Muttersprache zu drehen?

Auf jeden Fall. Aber ich finde es genauso richtig, wegzugehen. Für viele Künstler*innen in Großbritannien und Frankreich ist das ganz selbstverständlich. Sie drehen in Hollywood, wenn sie die Gelegenheit dazu haben, und kommen danach wieder zurück. Das sollte vielleicht auch bei uns zur Normalität werden.

Suchen Sie für Ihr nächstes Projekt konkret nach etwas ganz anderem?

Das weiß ich noch nicht. Ich möchte gerade einfach ein bisschen schreiben und mehr Zeit für die Familie haben. Es ist immer ein irrsinniger Spagat in diesem Beruf, Privatleben und Arbeit unter einen Hut zu bekommen, der gelingt mal mehr und mal weniger gut. Und ich merke, dass ich nach drei Spielfilmen und einem Baby in fünf Jahren gerne erst mal einen Gang runterschalten möchte. Viel weiter plane ich im Moment nicht.

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Die Alkoholikerin und arbeitslose Biologin Rona (Saoirse Ronan) kehrt mit Dreißig aus London auf die Orkney-Inseln zurück, um trocken zu werden.