Filmgespräch

Regisseur Óliver Laxe über SIRÂT: "Ich mag die Raver, ihre Radikalität."

Óliver Laxe wurde 1982 in Paris geboren, zog im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern zurück nach Galizien, und hat seither in Spanien, Marokko und Großbritannien gelebt. Obwohl alle seine bisherigen Langfilme auf dem Cannes Filmfestival Premiere feierten und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden, waren sie bisher in Deutschland nur auf Festivals zu sehen.

Achtung: Das Interview enthält Spoiler!

Pamela Jahn: SIRÂT ist ein Film, der sich schwer beschreiben lässt, aber unmittelbar am Puls der Zeit agiert. Es liegt nahe, darin einen Kommentar auf die Gegenwart zu sehen. War das Ihr Anliegen?

Óliver Laxe: Als Filmemacher will man immer eine Verbindung zum Hier und Jetzt herstellen, zumindest gilt das für mich. Die derzeitige Situation erinnert mich persönlich sehr an die 1970er Jahren, es herrscht eine ähnliche Polarisierung in der Gesellschaft, dieselbe Rückkehr zu einer Art Spiritualität, wahrscheinlich zum „New Age“. Auch die Gewaltbereitschaft ist entsprechend groß. Und passend zu all dem Chaos um uns herum, erleben wir gerade wieder ein Kino, das die Ängste, Träume und Sehnsüchte der Menschen erfahrbar macht, und dass die Energie der Zeit einfängt. Denn nur darum geht es - nicht darum, die Filme zu verstehen. Oder haben Sie APOCALYPSE NOW, EASY RIDER oder Monte Hellmans TWO-LANE BLACKTOP jemals wirklich begriffen? Ich weiß nicht, ob SIRÂT eine ähnliche Kraft hat. Dafür bin ich als Regisseur zu nah dran. Und wahrscheinlich braucht es auch den zeitlichen Abstand. Im Moment ist alles noch zu frisch.

Ihr Film zeigt, wie sich verschiedene Realitäten und Schicksale in der Wüstenregion rund um das marokkanische Atlasgebirge überlagern. Aber die dystopische Landschaft, in der SIRÂT spielt, könnte überall sein.

Ja, wir sind abstrakter. Unsere Strategie war es, gleichzeitig eine physische Geschichte und ein metaphysisches Abenteuer zu erzählen. Das Wichtigste dabei ist, wie man Abstraktion ohne Abstraktion schafft. Wie man zufällig andere Symbolebenen einbaut, die der Zuschauer nicht verstehen muss, aber spürt. Das ist für mich der heikelste Punkt beim Filmemachen: Wie gelingt es mir, meine wahren Absichten zu verbergen. Man muss versuchen, den Bogen so weit wie möglich zu spannen. Aber irgendwann gilt es, den Pfeil abzuschießen. Das ist eine schwierige Balance.

Wie lässt sich dieser feine Grad der Überspannung im Film herstellen?

Darüber habe ich viel nachgedacht. Zum Beispiel: Wann führen wir den Tod in die Handlung ein? Das ist eine der Fragen, die ich mir immer wieder gestellt habe. In der ersten Drehbuchfassung war es noch andersherum. Zuerst kam das Minenfeld, wir wollten die Figur in eine Art Schwimmbecken stürzen. Aber dann erinnerte ich mich an NOSTALGHIA von Andrej Tarkowskij, als der Mann mit der brennenden Kerze durch die heilige Therme geht? Er muss an seinem Glauben festhalten, um das Universum zu retten - komme, was wolle. Auf ähnliche Weise mussten wir Luis' Seele zuerst im Kern berühren. Aber wie kann das gelingen, ohne das Publikum allzu sehr zu verstören? Ich bin kein sadistischer Mensch, ich möchte die Zuschauer nicht leiden sehen. Ganz im Gegenteil.

Was wäre gewesen, wenn Sie an der ersten Version festgehalten hätten?

Die Gefahr bestand darin, missverstanden zu werden. Und noch etwas kommt dazu: Ich sehe es als meine Aufgabe an, für mich selbst und für die Zuschauer zu sorgen. Manchmal muss man die Nadel benutzen und das eigene Ego platzen lassen, anstatt an bestimmten Ideen oder Szenen festzuhalten. Es ist eine Art filmische Akupunktur. Wissen Sie, SIRÂT ist für mich wie eine Zeremonie. Das entdecke ich gerade: Der Film, die Bilder, es ist ein Prozess für die Zuschauer; wir drängen das Publikum dazu, in sich selbst hineinzuschauen. Aber was man dort sieht, ist manchmal nur schwer zu ertragen. Als Regisseur muss man diese Tatsache anerkennen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie in Marokko gedreht haben. Was fasziniert Sie an der Landschaft so sehr?

Sie fasziniert die Menschheit. Wenn es keine Berge gibt, müssen wir zum Himmel schauen. Und in dem Moment wird man sich seiner eigenen Winzigkeit bewusst. Das hat etwas Gesundes. Ich stamme aus einer Bauernfamilie, meine Großeltern hatten einen Hof. Sie hatten keine Angst vor der Natur, sie scherten sich auch nicht um die Schönheit der Landschaft. Aber sie wussten, jedes Blatt am Baum bewegt sich aus einem bestimmten Grund. Der Mensch ist mit diesen naturgegebenen Manifestationsregeln verbunden und löst sich in ihnen auf. Es sind seltsame Regeln, geheimnisvolle Regeln. SIRÂT ist gewissermaßen der Gegenentwurf dazu.

Inwiefern?

Poesie bedeutet, bis an die Grenzen der Sprache zu gehen. Eine Art Ekstase oder ekstatische Verzückung zu evozieren. Man spürt die Essenz der Worte. In meinen Filmen versuche ich, etwas Ähnliches zu erreichen, eine Art Entmaterialisierung. Die Musik geht von der Melodie, vom Rhythmus zu den Grundtönen über. Auch die Landschaft wird immer karger, leerer, einfacher.

Die Bilder des Films bleiben auch wegen der Bewegungen der Menschen so stark in Erinnerung. Woher kam die Idee, Leute beim Rave in der Wüste zu zeigen?

Ich mag die Raver, ihre Radikalität. Sie zeigen ihre Narben und tragen ihre Wunden offen mit sich. Klar, sie haben ihre Widersprüche und ihre Schwächen, wie wir alle. Aber ich sehe das eher als ein Zeichen von Reife. In unserer Gesellschaft, insbesondere in den westlichen Ländern, sind wir ständig damit beschäftigt, ein idealistisches Bild von uns selbst zu konstruieren. Wir glauben wirklich, dass wir fitte, ausgeglichene Menschen sind. Aber wenn man ein wenig in der Welt herumreist, versteht man, dass die meisten von uns psychisch ziemlich angeschlagen sind.

Im Arabischen bedeutet „sirât“ so viel wie „Weg“ oder „Pfad“. Lässt sich der Begriff auch in andere Religionen übersetzen?

Wenn man alle Traditionen studiert, erkennt man, dass ihre Essenz immer dieselbe ist. Es gibt im Arabischen noch ein Wort, das mir sehr gefällt: „haqq“. Es hat mehrere Bedeutungen: Wahrheit, Realität, Recht oder Gerechtigkeit. Die Aussprache ist entscheidend. Dann klingt der Begriff plötzlich wie ein Schwertschlag. Dann ist Wahrheit nichts Ideologisches, sondern etwas, das man fühlt.

Die Raver in Ihrem Film betäuben ihren Schmerz mit Drogen, Tanzen, Musik. Können Sie das nachvollziehen?

Ich urteile viel in meinem alltäglichen Leben. In meinen Filmen versuche ich, nicht denselben Fehler zu machen. Die meisten Raver, die ich erlebt habe, sind gebrochene Menschen, die trotzdem nicht aufgeben, über sich selbst hinauswachsen zu wollen. Wahrscheinlich haben sie nicht die besten Mittel dafür. Die Tanzkultur ist voller Gift und Gegensätze. Sie tanzen, sie schreien oder weinen. Aber am nächsten Tag wachen sie auf und versuchen es weiter.

Wonach haben Sie die Raver ausgewählt, die Sie im Film porträtieren?

Sie alle repräsentieren eine Art Archetyp. Der eine ist ein Punk, der andere ein Pirat, der dritte ein Zigeuner, der vierte ein Freak. Aber das Wichtigste war, gute Menschen zu finden. Und das sind sie. Das Leben zwingt sie dazu, bescheiden zu sein. Aber das macht sie nicht bitter. Sie kümmern sich um andere. Sie geben dem Film eine positive Energie. Auch wenn schlimme Dinge passieren, stehen sie bis zum Schluss für das Leben.

Warum war es Ihnen wichtig, den spanischen Schauspieler Sergi López in Kontrast zu den Laiendarsteller*innen zu stellen?

Weil er wie ein ganz normaler Vater wirkt, der seine Tochter sucht. Man erwartet nicht, dass sich Luis in den Abgrund stürzt, aber er tut es, weil er nichts mehr zu verlieren hat. Gleichzeitig ist Sergi in seiner Darstellung sehr instinktiv. Er ist kein technischer Schauspieler, und er kann er sein Ego kontrollieren. Wenn er spielt, ist er ganz er selbst. So entsteht ein Gleichgewicht zu den Ravern. Und eine Vertrauensbasis, die wichtig war für die Dynamik des Films.

Die Musik ist der Herzschlag der Geschichte. Wie haben Sie den Sound kreiert?

Die Strategie, die ich Kangding Ray vorgeschlagen habe, war, mit einer gewissen Wut im Beat zu beginnen. Einem tribalen Beat, der fast kriegerisch klingt. Am Anfang steht ein sehr tiefer Techno-Sound. Aber langsam verschwinden die Beats, die Kicks, und die Musik klingt immer ätherischer, esoterischer, die Klänge werden entmaterialisiert. Die Idee war es, auf einem Sound hinzuarbeiten, der sich anfühlt, als würden Engel erscheinen. Als würde der Himmel Schutz bieten.

Wie haben Sie Kangding Ray, den französischen Musiker David Letellier entdeckt?

Ich habe ein Casting für Musiker gemacht. Und zwischen uns hat es sofort geklickt. Es war mir wichtig, eine Klanglandschaft zu schaffen, in der man die Musik sehen und die Bilder hören kann. Die Körnigkeit des Films hängt mit der Verzerrung der elektronischen Klänge zusammen. David hat das verstanden, wir lagen sozusagen auf einer Wellenlänge.

Wie wichtig ist für Sie die Bildsprache im Vergleich zur Musik?

Das Bild ist alles für mich, ich bin kein großartiger Geschichtenerzähler. Auch kein Konzeptkünstler. Ich vertraue auf die Kraft der Verbindung zwischen einem Bild und all den Bedeutungen und Gefühlen, die Bilder hervorrufen können. Manchmal schaut man einen Film, er muss noch nicht einmal gut sein, aber sechs Monate später taucht plötzlich ein Bild daraus in unserem Kopf auf und brennt sich in unser Gedächtnis ein - ob wir wollen oder nicht. Das finde ich faszinierend, Darin liegt die wahre Macht der Bilder.

Relevante Filme

Tipp von Hendrike

Sirât

‘SIRÂT hält eine Spannung, die an LOHN DER ANGST erinnert, Schauwerte und Drive können es mit MAD MAX: FURY ROAD aufnehmen.’

Läuft ab Donnerstag