Pamela Jahn: SIRÂT ist ein Film, der sich schwer beschreiben lässt, aber unmittelbar am Puls der Zeit agiert. Es liegt nahe, darin einen Kommentar auf die Gegenwart zu sehen. War das Ihr Anliegen?
Óliver Laxe: Als Filmemacher will man immer eine Verbindung zum Hier und Jetzt herstellen, zumindest gilt das für mich. Die derzeitige Situation erinnert mich persönlich sehr an die 1970er Jahren, es herrscht eine ähnliche Polarisierung in der Gesellschaft, dieselbe Rückkehr zu einer Art Spiritualität, wahrscheinlich zum „New Age“. Auch die Gewaltbereitschaft ist entsprechend groß. Und passend zu all dem Chaos um uns herum, erleben wir gerade wieder ein Kino, das die Ängste, Träume und Sehnsüchte der Menschen erfahrbar macht, und dass die Energie der Zeit einfängt. Denn nur darum geht es - nicht darum, die Filme zu verstehen. Oder haben Sie APOCALYPSE NOW, EASY RIDER oder Monte Hellmans TWO-LANE BLACKTOP jemals wirklich begriffen? Ich weiß nicht, ob SIRÂT eine ähnliche Kraft hat. Dafür bin ich als Regisseur zu nah dran. Und wahrscheinlich braucht es auch den zeitlichen Abstand. Im Moment ist alles noch zu frisch.
Ihr Film zeigt, wie sich verschiedene Realitäten und Schicksale in der Wüstenregion rund um das marokkanische Atlasgebirge überlagern. Aber die dystopische Landschaft, in der SIRÂT spielt, könnte überall sein.
Ja, wir sind abstrakter. Unsere Strategie war es, gleichzeitig eine physische Geschichte und ein metaphysisches Abenteuer zu erzählen. Das Wichtigste dabei ist, wie man Abstraktion ohne Abstraktion schafft. Wie man zufällig andere Symbolebenen einbaut, die der Zuschauer nicht verstehen muss, aber spürt. Das ist für mich der heikelste Punkt beim Filmemachen: Wie gelingt es mir, meine wahren Absichten zu verbergen. Man muss versuchen, den Bogen so weit wie möglich zu spannen. Aber irgendwann gilt es, den Pfeil abzuschießen. Das ist eine schwierige Balance.
Wie lässt sich dieser feine Grad der Überspannung im Film herstellen?
Darüber habe ich viel nachgedacht. Zum Beispiel: Wann führen wir den Tod in die Handlung ein? Das ist eine der Fragen, die ich mir immer wieder gestellt habe. In der ersten Drehbuchfassung war es noch andersherum. Zuerst kam das Minenfeld, wir wollten die Figur in eine Art Schwimmbecken stürzen. Aber dann erinnerte ich mich an NOSTALGHIA von Andrej Tarkowskij, als der Mann mit der brennenden Kerze durch die heilige Therme geht? Er muss an seinem Glauben festhalten, um das Universum zu retten - komme, was wolle. Auf ähnliche Weise mussten wir Luis' Seele zuerst im Kern berühren. Aber wie kann das gelingen, ohne das Publikum allzu sehr zu verstören? Ich bin kein sadistischer Mensch, ich möchte die Zuschauer nicht leiden sehen. Ganz im Gegenteil.
Was wäre gewesen, wenn Sie an der ersten Version festgehalten hätten?
Die Gefahr bestand darin, missverstanden zu werden. Und noch etwas kommt dazu: Ich sehe es als meine Aufgabe an, für mich selbst und für die Zuschauer zu sorgen. Manchmal muss man die Nadel benutzen und das eigene Ego platzen lassen, anstatt an bestimmten Ideen oder Szenen festzuhalten. Es ist eine Art filmische Akupunktur. Wissen Sie, SIRÂT ist für mich wie eine Zeremonie. Das entdecke ich gerade: Der Film, die Bilder, es ist ein Prozess für die Zuschauer; wir drängen das Publikum dazu, in sich selbst hineinzuschauen. Aber was man dort sieht, ist manchmal nur schwer zu ertragen. Als Regisseur muss man diese Tatsache anerkennen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie in Marokko gedreht haben. Was fasziniert Sie an der Landschaft so sehr?
Sie fasziniert die Menschheit. Wenn es keine Berge gibt, müssen wir zum Himmel schauen. Und in dem Moment wird man sich seiner eigenen Winzigkeit bewusst. Das hat etwas Gesundes. Ich stamme aus einer Bauernfamilie, meine Großeltern hatten einen Hof. Sie hatten keine Angst vor der Natur, sie scherten sich auch nicht um die Schönheit der Landschaft. Aber sie wussten, jedes Blatt am Baum bewegt sich aus einem bestimmten Grund. Der Mensch ist mit diesen naturgegebenen Manifestationsregeln verbunden und löst sich in ihnen auf. Es sind seltsame Regeln, geheimnisvolle Regeln. SIRÂT ist gewissermaßen der Gegenentwurf dazu.
Inwiefern?
Poesie bedeutet, bis an die Grenzen der Sprache zu gehen. Eine Art Ekstase oder ekstatische Verzückung zu evozieren. Man spürt die Essenz der Worte. In meinen Filmen versuche ich, etwas Ähnliches zu erreichen, eine Art Entmaterialisierung. Die Musik geht von der Melodie, vom Rhythmus zu den Grundtönen über. Auch die Landschaft wird immer karger, leerer, einfacher.