Filmgespräch

Kameramann Robbie Ryan über POOR THINGS: "Für Yorgos' Ästhetik gibt es keine Grenzen"

Der Ire Robbie Ryan ist einer der weltweit erfolgreichsten Kameraleute. Er arbeitet regelmäßig mit Andrea Arnold, Ken Loach, Sally Potter und Noah Baumbach zusammen. Für die Kameraarbeiten zu Yorgos Lanthimos‘ THE FAVOURITE erhielt Ryan die erste Oscar-Nominierung. Aktuell ist Robbie Ryan für Yorgos Lanthimos‘ auf 35 mm gedrehten POOR THINGS für einen Oscar nominiert. Pamela Jahn hat sich für das INDIEKINO Magazin mit Ryan über seine Arbeit unterhalten.

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Pamela Jahn: Herr Ryan, Sie sind vor allem für Ihre Arbeit mit sozialrealistischen Regisseuren wie Andrea Arnold und Ken Loach bekannt. Was haben Sie gedacht, als Yorgos Lanthimos Sie 2016 für THE FAVOURITE anfragte?**

Robbie Ryan: Zugegeben, ich war überrascht. Aber Yorgos und ich haben uns schon ein paar Jahre zuvor kennengelernt, etwa zu der Zeit, als er THE LOBSTER drehte. Und er muss etwas in meiner Arbeit gesehen haben, das ihn ansprach, sonst wäre er sicher nicht auf mich zugekommen. Zum Beispiel haben wir beide eine tiefe Liebe fürs Filmen auf Zelluloid, vielleicht war es das. Aber das ist nur meine Vermutung. Ich habe ihn ehrlich gesagt nie gefragt.

Hatten Sie bei den Dreharbeiten zu THE FAVORITE dennoch erst mal das Gefühl, sich außerhalb Ihrer Komfortzone zu bewegen?

Ein bisschen schon. Zum einen, weil Yorgos selbst ein hervorragender Kameramann ist. Zum anderen, weil er genau weiß, was er will und was nicht. Er hat seine eigene Bildsprache, die er mit jedem Film konsequent weiterentwickelt. Und POOR THINGS ist ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg. Der Film fühlt sich in seiner ganzen Befremdlichkeit extrem reif an, weil Yorgos' Blick von einer großen Sensibilität und Wachsamkeit geprägt ist.

Die oft schrägen, weiten Blickwinkel und die Fischaugenperspektive, die in beiden Filmen zum Einsatz kommen, waren das seine oder Ihre Ideen?

Es ist immer eine Zusammenarbeit. In THE FAVOURITE haben wir ein Sechs-Millimeter-Objektiv verwendet, das ein sehr verzerrtes Bild erzeugt. Es war perfekt, um die Geschichte einer Frau zu erzählen, die in ihrem Palast gefangen ist. Die Tatsache, dass man aufgrund des weiten Winkels den ganzen Raum sehen konnte, verstärkte das Gefühl ihrer Isolation umso mehr. Dass wir auch in POOR THINGS mit Weitwinkel gearbeitet haben, hat jedoch andere Gründe. Klar, in erster Linie passte es hier ebenfalls zu der Unwirklichkeit des Films insgesamt. Gleichzeitig muss man aber beachten, dass Yorgos' Schnitt sehr lyrisch ist, das heißt, das Timing ist entscheidend. Wenn man dann ein Vier-Millimeter-Objektiv verwendet, unterstreicht das eine Szene in dem Maße, dass es sich fast wie ein Angriff auf die Sinne anfühlt, weil das Auge in dem Moment zu viele Informationen bekommt.

Hatten Sie jemals Bedenken, es in Bezug auf die visuelle Ästhetik des Films zu weit zu treiben?

Für Yorgos' Ästhetik gibt es keine Grenzen. Wenn er denkt, dass er das Spiel noch ein bisschen weitertreiben kann, tut er das auch. Es gibt zum Beispiel viel Himmel in POOR THINGS und mit den Weitwinkelobjektiven kann man alles sehen. Die Welt wirkt dadurch noch größer. Aber weil wir nicht an realen Schauplätzen, sondern im Studio gedreht haben, musste der ganze Himmel in der Postproduktion nachbearbeitet werden. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob es funktionieren würde. Aber Yorgos hat darauf vertraut - und das Ergebnis gibt ihm recht.

Welche Überlegungen gab es, um die verschiedenen Schauplätze optisch voneinander zu unterscheiden?

Wir hatten im Vorfeld die Idee, dass wir für bestimmte Episoden bestimmte Filmmaterialien verwenden würden. Zum Beispiel wollten wir Ektachrome für die Außenaufnahmen aller Orte verwenden, die Bella besucht, weil das ein sehr farbenfrohes und sehr kontrastreiches Filmmaterial ist. Allerdings ist es auch sehr langsam, und wir hätten noch mehr Licht gebraucht. Also mussten wir umdenken. Am Ende haben wir insgesamt vielleicht nur fünf verschiedene Objektive verwendet. Dadurch ist eine Filmsprache entstanden, die sich quasi durch die ganze Geschichte zieht. Doch aufgrund der speziellen Schnitttechnik sieht es an den verschiedenen Schauplätzen immer etwas anders aus.

Oft konzentriert sich die Kamera auf Bellas Gesicht, ihre Mimik und Gestik. Inwieweit hat Emma Stone eine Rolle bei der visuellen Gestaltung des Films gespielt?

Emma ist eine wie keine. Es gibt viele Schauspielerinnen, für die es wahrscheinlich sehr schwierig gewesen wäre, sich in Bella Baxter hineinzuversetzen. Vor allem, weil es sich bei dem Film nicht zuletzt um eine sehr schräge, sehr morbide Art von Komödie handelt. Manchmal fragt man sich bei solchen Projekten hinter der Kamera, ob das, was am Set großen Spaß macht, dann tatsächlich auch im fertigen Film so komisch rüberkommt. Aber bei Emma gab es keine Zweifel. Sie ist eine große Künstlerin.

Was macht ihr Gesicht so reizvoll?

Es sind die großen Augen, diese unglaublichen, riesigen Augen. Die Kamera wird förmlich von ihnen angezogen. Doch es ist nicht nur ihr Gesicht. Es ist ihre ganze Persönlichkeit, die strahlt, und Emma weiß genau, wie sie dieses Potential ausreizen kann.

Worin lag für Sie die größte Herausforderung bei diesem Film?

Ich habe noch nie einen Film komplett im Studio gedreht. Die Vorstellung, verschiedene Städte oder ein ganzes Kreuzfahrtschiff in einer Studiokulisse nachzubilden und zu beleuchten, war mir zunächst suspekt. Und während der Dreharbeiten wurden die Sets immer schwieriger zu filmen, so dass ich jetzt im Nachhinein reale Drehorte und echten Sonnenschein umso mehr zu schätzen weiß.

Hatten Sie irgendwelche künstlerischen Referenzen für die Landschaften oder die Innenaufnahmen?

In den Medien wurde viel von Dalí als Anhaltspunkt geredet, aber es gab nicht nur eine große Referenz. Hieronymus Bosch war ein weiterer Einfluss, nicht nur visuell, sondern auch in Bezug auf die Kostüme, das Make-up und so weiter. Ich persönlich finde, der ganze Film fühlt sich manchmal wie gemalt an.

Sie haben fast parallel zu POOR THINGS mit Ken Loach das Sozialdrama THE OLD OAK gedreht. Das muss im Vergleich ein Kinderspiel gewesen sein.

Das könnte man meinen, aber jeder Regisseur, jeder Film hat seine ganz eigenen Ansprüche und Herausforderungen. Ken ist jetzt 86 Jahre alt und kann nicht mehr zehn Stunden am Tag drehen. Trotzdem hat man nicht mehr Zeit, vor allem, wenn das Budget knapp ist. Und Kens visueller Stil ist sehr tief in sich verwurzelt.

Was genau meinen Sie damit?

Wenn ich mit Ken arbeite, habe ich immer das Gefühl, Teil einer Masterclass im Filmemachen zu sein. Allein, die Art, wie er mit den Schauspielerinnen umgeht, ist brillant. Er ist ausgebildeter Anwalt, und das spürt man am Set in jedem Augenblick. Als wir JIMMY'S HALL gedreht haben, spielten sich viele der Szenen in Tanzlokalen im Westen Irlands ab. Wir hatten jeden Tag 100 bis 150 Darstellerinnen am Set, und Ken hat sie alle mit Vornamen angeredet. Er hat einen unglaublich scharfen, analytischen Verstand. Zusammen mit Paul Laverty bilden sie ein wirklich einzigartiges Regisseur-Autor-Duo, weil sie mit einer Leidenschaft bei der Sache sind, die staunen macht. Und Sie haben eine politische Stimme, die gehört werden muss.

Noch länger als mit Ken Loach arbeiten Sie mit Andrea Arnold zusammen. Wie kam es dazu?

Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich habe Andrea 2003 kennengelernt, als sie einen Kameramann für ihren Kurzfilm WASP suchte. Wir trafen uns in einem Café in Soho. Ich hatte mich damals gerade von einer Freundin getrennt und war ziemlich emotional. Andrea ist sehr sensibel für die Gefühle anderer Menschen und hat sofort erkannt, was los war. Ich weiß nicht, ob das dazu beigetragen hat, dass wir uns auf Anhieb gut verstanden haben. Aber Sie hat mich engagiert.
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Haben Sie sie mal gefragt, warum sie Ihnen den Job gegeben hat?**

Ich erinnere mich, dass sie später sagte, ihr hätte gefallen, wie ich mit der Kamera auf der Schulter rückwärts eine Treppe hinunterlief, um ein paar rennende Kids zu filmen. Ich bin einfach so schnell wie möglich runtergelaufen, ohne zu stolpern. Wir hatten die Aufnahme im Kasten, und sie war davon beeindruckt.
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Was ist das Spezielle an der Zusammenarbeit mit ihr?**

Wir haben im Laufe der Jahre eine gemeinsame Sprache gefunden. Ihre Regeln sind ziemlich solide und sehr einfach: Sie hasst viele Schnitte und das Filmen mit Stativ. Sie will ihren Protagonist*innen am liebsten immer genau auf die Finger schauen. Die Kamera geht also immer dorthin, wohin die Person geht. Man ist pausenlos ganz nah an den Figuren dran. Man könnte fast sagen, die Kamera verschmilzt mit der Figur, weil man so involviert ist. Als Zuschauer weiß man nur, was mit der oder jener Person passiert, wenn es passiert, weil man immer auf Augenhöhe ist. Das Geheimnis von Andreas Art des Filmemachens ist diese Einfachheit, die gleichzeitig beim Publikum eine enorme Intensität erzeugt.

Zwischen Ihren Spielfilmprojekten drehen Sie bis heute regelmäßig eine ganze Reihe von Kurzfilmen. Warum das?

Ja, dieses Jahr habe ich drei gefilmt, weil ich sehr gerne mit neuen Filmemacher*innen zusammenarbeite. Wenn sich jedoch herausstellt, dass die Chemie mit dem Regisseur oder der Regisseurin vielleicht doch nicht stimmt, ist es nicht so schlimm. Man kann man einfach weiterziehen, ohne viel Zeit verloren zu haben. Und wenn man sich gut mit jemandem versteht, bleibt man in Kontakt und hofft man gemeinsam darauf, dass sie irgendwann einmal die Gelegenheit haben, einen Spielfilm zu drehen. Das finde ich toll. Es ist immer spannend, wenn man der Erste ist, der eine neue Stimme im Kino entdeckt. (INDIEKINO Magazin, 01/2024)

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‘Bella Baxter bringt die Welt um sich herum zur Implosion, weil sie sich niemals schämt, direkte Fragen stellt und sagt, was sie denkt. ’