Filmgespräch

Constanze Klaue über MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN: "Im Kern geht es mir um die Orientierungslosigkeit der Elterngeneration."

Constanze Klaue wurde 1985 in Ost-Berlin geboren und wuchs in Berlin und Brandenburg auf. Sie studierte Literatur, Jazzgesang und Regie und arbeitet als Filmemacherin, Autorin und unter dem Pseudonym Erna Rot auch als Jazzmusikerin. Bereits in LYCHEN 92, der den Preis für den Besten Mittellangen Film auf dem Max Ophüls-Filmfestival 2020 gewann, spielte im Ostdeutschland der Nachwendezeit und erzählte aus der Perspektive des 12-jährigen Moritz von einem Zelturlaub 1992.

Pamela Jahn: Frau Klaue, Sie haben sich bereits in Ihrem Abschlussfilm an der Kunsthochschule mit der Nachwendezeit beschäftigt. Was hat Sie jetzt speziell an dem Roman von Lukas Rietzschel interessiert?

Constanze Klaue: Bei LYCHEN 92 war ich auf eine Laufzeit von 30 Minuten beschränkt. Mir war eigentlich damals schon klar, dass das erst der Anfang sein sollte und ich mich noch intensiver mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Ich bin ganz zufällig auf den Roman gestoßen und wusste direkt, dass ich ihn verfilmen möchte. Einmal, weil Lukas' Schreibstil mich fasziniert, der durch seine Beschreibungen eine große Visualität hat, die sich fürs Kino gut übertragen lässt - und gleichzeitig, weil ich meine eigene Biografie in seiner Erzählung wiederfand. Daher habe ich mich auch persönlich angesprochen gefühlt.

Sie kommen aus Ost-Berlin. Wieviel von einem Landkind steckt in Ihnen?

Die Geschichte ist nicht meine eigene, aber trotzdem konnte ich sehr viel von mir und meiner privaten Ost-Sozialisation miteinbringen. Ich bin die ersten neun Jahre in Lichtenberg aufgewachsen, aber dann aufs Land nach Brandenburg gezogen. Dort haben meine Eltern versucht, ihren Traum vom Eigenheim zu realisieren und sind ähnlich wie in der Geschichte daran gescheitert. Wir haben übrigens genau in diesem Haus gedreht.

Was macht den Charme der ostdeutschen Provinz aus?

Ich bin oft im südwestlichen Brandenburg und im Fläming. Meine Tante hat dort einen Hof in Lehnsdorf, einem Ort, in dem heute keine 100 Menschen mehr leben. Andreas Dresen hat dort vor Jahren mal einen Kurzfilm gedreht. Ich habe ein großes Faible für Weite. Auch für die Kargheit, die dort herrscht, und die Melancholie, die darin mitschwingt. Ich kann dem viel abgewinnen. Das fängt beim losen Sand an, dass man im Sommer mit dem Fahrrad nicht durch die Wälder fahren kann, weil der Boden zu weich ist. Ich liebe den Geruch, wenn die Sonne das Harz von den Kiefern löst. Und die Stille. Man sieht Hirsche, Rehe, Waschbären. Es gibt dort ein Wolfsrudel. Es ist schon ein Stück weit die unberührte Natur, die mich anzieht.

Man kann es natürlich auch andersrum sehen: Dass dort kaum noch Menschen leben, weil es keine Arbeit mehr gibt und alle abgewandert sind.

Klar, aber das gehört für mich zu diesem Heimatempfinden dazu. Verlassene Orte, leerstehende Häuser. All das hat mich schon als Kind fasziniert, die Tatsache, dass wir alle immer auch ein Stück weit Teil einer Historie sind. Wir leben ja nicht nur in der Gegenwart, die uns unmittelbar betrifft. Das Vergangene ist genauso präsent in uns. In dem Gedanken steckt für mich ganz viel Raum zum Träumen, für Fantasie.

Das klingt erstmal alles sehr romantisch. Im Film führt allerdings genau diese schwierige Situation für viele Menschen im Osten zur Katastrophe.

Das meine ich mit Melancholie, wenn das Leben plötzlich eine Schwere bekommt, weil das, was einmal war, nicht mehr existiert, und die Leere, die dadurch entsteht, in eine Traurigkeit führt - oder tatsächlich auch zu einer Art Unglück. Ich selbst bin vor diesem Schmerz nicht gefeit, deswegen kann ich auch nicht dauerhaft an diesen Orten bleiben, sondern nur punktuell. Eine Frage, die mich sehr beschäftigt, ist, ob diese ostdeutsche Mentalität nicht irgendwann ausstirbt. Der Gedanke kommt mir vor allem, wenn ich im Norden bin, auf Rügen oder Hiddensee, wo kaum noch etwas wie früher aussieht, wo man merkt, dass das Geld, das meistens nicht aus dem Osten kommt, einzieht und die Einheimischen kaum eine Chance haben, ihre Orte zu bewahren.

Die Entwicklungen in der Nachwendezeit stellten das gesamte Werte- und Wirtschaftssystem der DDR auf dem Kopf - ist es dieser Prozess, der Sie nicht loslässt?

Im Kern geht es mir um die Orientierungslosigkeit der Elterngeneration, was im Film ein zentraler Punkt ist: Wenn Kinder plötzlich auf sich allein gestellt sind, weil die Erwachsenen ihnen keinen Halt oder zumindest keine gewisse Struktur mehr bieten können. Ähnlich wie im Film habe ich das auch erlebt, wie meine Eltern mit Arbeitslosigkeit und einer ständigen Neuorientierung zu kämpfen hatten. Man nennt meine Generation auch die der Unberatenen, was ich sehr treffend finde.

Welcher der beiden Jungs in der gegebenen Familienkonstellation ist für Sie die spannendere Figur, der etwas ältere Philipp oder sein jüngerer Bruder Tobi

Auf jeden Fall beide, aber mit Tobi kann ich mich vielleicht persönlich mehr identifizieren. Er ist derjenige, der die Welt, wie sie einmal war, zu bewahren versucht. Er kämpft dafür, die Familie zusammenzuhalten, die Dinge zu kitten, weil er sich wünscht, dass alles wieder gut wird. Er sieht, was Philipp, der einfach mitläuft, nicht erkennt. Für ihn, den Älteren, sind vielmehr die Typen in seinem Umfeld von Bedeutung. Das liegt aber auch daran, dass er älter ist. Philipp orientiert sich nicht mehr an der Familie, sondern erst an seinen Freunden, dann an den Nazis aus dem Dorf, bekommt aber noch die Kurve und zieht sich zurück. Aber Tobis Entwicklung ist so tragisch, weil er das alles ganz stark emotional spürt und zu retten versucht, was längst verloren ist. Und weil er sich am Ende leider auf eine sehr drastische Art und Weise abgrenzt.

Radikalisierung ist einer der Schlüsselbegriffe im Zusammenhang mit der Romanvorlage. In Ihrer Adaption verzichten Sie bewusst darauf, bestimmte Geschehnisse mit politischen Ereignissen zu verknüpfen. Warum?

Lukas Rietzschels Erzählung umfasst diese spezielle Zeitspanne von 2000 bis 2015, aber es hört ja danach nicht auf mit dem Rechtsruck. Im Gegenteil, wir stecken heute immer noch mittendrin. Deshalb wollte ich es im Film vermeiden, die Geschehnisse in der Familie zu sehr an politische Ereignisse zu knüpfen. Mein Fokus liegt auf den sozialen Problemen, die letztlich Auslöser dieser Entwicklung sind.

An welchem Punkt hätte man innerhalb der Familie noch dagegen steuern können, dass die Geschichte am Ende vielleicht gut ausgegangen wäre?

Der Film startet bereits mit einem Scheinglück. Die Familie ist von Beginn an nicht mehr wirklich zusammen. Sowohl die Eltern als auch die beiden Söhne funktionieren noch in ihren zugeschriebenen Rollen, aber mehr nicht. Die Mutter geht arbeiten, der Vater fährt auf Montage. Die räumliche Trennung wird hier auch zur Metapher. Sie sind keine Einheit mehr, sondern jeder für sich allein.

Deutlich wird das auch an der Art, wie sie miteinander reden.

Ja, es herrscht eine große Unfähigkeit, sich miteinander auszutauschen, zu diskutieren, die Dinge auszusprechen – das ist übrigens ein Motiv, das sich auch ganz stark durch den Roman zieht. Keine Worte zu finden und keine Antworten zu haben. Und die Scham, die damit verbunden ist.

Sie haben eingangs Andreas Dresen erwähnt, der sich in seinen Filmen schon lange auf ähnlichen Spuren bewegt. Sehen Sie für sich Parallelen in der Herangehensweise?

Ja, aber nicht nur bei ihm, auch bei Ken Loach. Gerade habe ich zudem das Kino von Stéphane Brizé für mich entdeckt. Andreas Dresen und ich sind uns zum ersten Mal beim First Steps Award begegnet, wo ich mit LYCHEN 92 für den besten mittellangen Film ausgezeichnet wurde. Darüber wurde mir die Möglichkeit einer Mentorenschaft mit einem der Mitglieder angeboten. Für mich völlig klar: Da konnte es nur einen Regisseur geben.

Worin hat er Sie am meisten bestärkt?

Wirklich an mich und meine Idee für die Art der Adaption zu glauben, in dieser Ruhe und auch in den Ellipsen zu bleiben und nicht zu versuchen, reißerisch zu sein.

Vor Ihrer Regieausbildung haben Sie Germanistik in Dresden und Jazzmusik in Osnabrück studiert. Wie kam es zu der beruflichen Kehrtwende?

An erster Stelle stand für mich das Schreiben, schon immer. Ich habe schon als Kind Geschichten geschrieben. Aber auch das filmische Erzählen hat mich früh fasziniert. Die Leidenschaft für Theater, für Kino war immer präsent. Genauso wie für Musik. Eine Zeit lang habe ich sogar mit der Idee geliebäugelt, Schauspiel zu studieren, habe in der Theater AG mitgemacht und eigentlich gedacht, diesen Weg zu gehen, und mich auf die Aufnahmeprüfungen vorbereitet. Dass ich dann in der Musik gelandet bin, war eher Zufall und tat mir vor allem persönlich sehr lange sehr gut. Aber irgendwann wusste ich, dass ich nicht jeden Tag auf der Bühne stehen will und meinen Blick lieber auf andere als mich selbst richten möchte.

Spüren Sie beim Schreiben oder Drehen heute trotzdem einen bestimmten Rhythmus in sich, der Sie leitet?

Total. Die Musik, der Jazzgesang, ist weiterhin sehr wichtig für mich. Mir wird auch oft gesagt, dass die Texte, die ich schreibe, sehr musikalisch sind. Ich achte zum Beispiel sehr stark auf Akustik, auf die Sprache, den Rhythmus der einzelnen Worte. Da bin ich extrem genau. Das spiegelt sich oftmals auch in meinen Regieanweisungen wider, ohne dass es mir selbst in dem Moment bewusst wird. Mein nächster Film wird übrigens ein Musikfilm. Dann wird sich zeigen, wieviel Rhythmus tatsächlich in meinem Blut steckt.

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