Youri sieht sein Zuhause als Raumschiff. Wie erweckt man diese Vision zum Leben?
Fanny Liatard: So erschien uns das Gebäude wirklich: Als wir das erste Mal dort waren, erschein uns das Gebäude wie ein riesiges Raumschiff. Die große Frage war, wie wir die Architektur filmen können, um mit dieser doppelten Lesart zu spielen.
Jeremy Trouilh: Um diese Idee zu vertiefen, haben wir uns für einen Aufenthalt im National Space Studies Center entschieden, wo wir an Gesprächen teilnahmen, die uns wirklich dabei halfen, eine Vorstellung zu entwickeln, was ein Raumschiff ist und was es bedeutet, im Weltraum zu leben. Ein Vortrag befasste sich insbesondere mit dem Thema "Inhabiting Space". Dadurch konnten wir unserer Figur einen soliden, technischen Hintergrund geben.
Fanny Liatard: All diese Elemente trugen dazu bei, dass wir uns unser eigenes Raumschiff ausdenken konnten. Wir wollten nicht, dass es zu steril oder klinisch ist, sondern lebendig, schmutzig und organisch, weil Youri die Kapsel aus gefundenen Gegenständen baut. Er durchstöbert verlassene Wohnungen und sammelt Dinge, die die Mieter zurückgelassen haben, alles, was sich als nützlich erweisen könnte. Jedes Objekt wird umfunktioniert und Teil der Kapsel. Es ist eine Anspielung auf die Idee, dass Youri auf einem Drahtseil zwischen himmlischem Penner und Astronaut balanciert.
Jeremy Trouilh: Wieder einmal hat das Leben die Kunst beeinflusst. Wir hatten uns beim Schreiben den Aspekt des Objektsammelns ausgedacht, aber beim Dreh holte uns die Realität ein. Vor unseren Augen erlebte das Wohnprojekt genau das, was wir uns vorgestellt hatten. Als wir mit den Dreharbeiten begannen, war Gagarine leer, aber die Bewohner hatten Dinge, die sie nicht mehr wollten, in ihren Wohnungen zurückgelassen – Möbel, Gegenstände, Poster an den Wänden ... Leben, das stillsteht. Es war beeindruckend und bewegend.
Fanny Liatard: Bei den Dreharbeiten verbanden sich Realität und Fiktion. Alles war durcheinander. Da die Abrisskolonnen gerade mit der Arbeit begannen, als wir mit den Dreharbeiten anfingen, wurde Youris Geschichte zu unserer. Wir erlebten die Zerstörung von Gagarine in Echtzeit. Wir mussten mit den Abrissmannschaften verhandeln, um in einem Teil des Gebäudes zu drehen, während sie in einem anderen arbeiteten. Vor Beginn der Abrissarbeiten wird das Gebäude entkernt und von Asbest befreit. Wir sahen Männer mit Masken und weißen Schutzanzügen vorbeigehen. Astronauten! (lacht)
Die Idee, dass das Leben trotz allem durchdringt, scheint den Film zu durchziehen. Visuell natürlich, aber auch im Sounddesign.
Jeremy Trouilh: Youri ist ein Widerstandskämpfer. Trotz des geplanten Untergangs des Gebäudes versucht er, es um jeden Preis am Leben zu erhalten. Als er aufgibt, treten andere Lebensformen in den Vordergrund. In der Kapsel gibt es alle Arten von Pflanzen. Die Pflanzenwelt übernimmt. Durch sie entwickelt sich das visuelle und akustische Universum zu etwas Aquatischerem. Lärm verschwindet und wird durch Klänge ersetzt, die sich verändern und immer seltsamer werden, bis sie verschwinden.
Fanny Liatard: Schall breitet sich im Raum nicht aus. Unsere Idee war es, einer Entwicklung zu folgen, die mit einer aufgewühlten Realität beginnt und sich in Richtung Stille bewegt. Wir erzählen eine Geschichte vom Leben bis zum ultimativen Moment, in dem Youri aus seinem Gebäude in den Kosmos geschleudert wird. Dort, im Vakuum, gibt es keinen Ton. Symbolisch gesehen eine klangliche Reise vom Leben zum Tod.
Jeremy Trouilh: Um die Reise zwischen dem realen Raum und dem Traumraum zu erzählen, planten wir schon beim Schreiben, die realen Klängen der Plattenbauten zu bearbeiten. Beim Schnitt kam uns dann die Idee, dass der Ton Youris Passion offenbaren könnte, bevor es einen visuellen Hinweis darauf gibt.
Fanny Liatard: Das Gleiche gilt für die Musik – wir wollten die Klänge des Realen wie Noten spielen und die Noten so spielen, als wären sie reale Sounds. Die Brüder Galperine und Amine Bouhafa griffen auf alte elektronische Instrumente wie das Theremin zurück, das an ferne Frauenstimmen erinnert und verlorene Spuren des Lebens verkörpert.
Youri ist ein Einzelgänger, aber er ist nicht allein. Frauen spielen eine wichtige Rolle im Film, und zwar eine ganz andere Rolle als die, die ihnen normalerweise zugeschrieben wird. Durch sie erhält Youri Zugang zur Technologie. Das Beispiel von Diana (Lyna Khoudri) kommt mir in den Sinn.
Fanny Liatard: Darüber haben wir nicht wirklich nachgedacht, aber ich habe das Gefühl, dass unsere Charaktere, sowohl die männlichen als auch die weiblichen, von den Erwartungen abweichen. Wie Youri möchte Diana verstehen, wie die Dinge funktionieren. Das leitet sie. Im Vergleich zu ihm hat sie jedoch eine sehr praktische und konkrete Sicht auf die Dinge. Sie ist Mechanikerin. Sie kann alles reparieren.
Jeremy Trouilh: Die Figur Diana entstand aus etwas, das uns sehr beeindruckt hat. Am Fuße der Gagarine-Hochhäuser erstreckten sich Roma-Lager. Vertikale und horizontale Ebenen, die sich nie kreuzten. Es gab keine Berührungspunkte zwischen diesen beiden Welten. Wir wollten eine Begegnung zwischen zwei Menschen aus diesen beiden Orten zeigen. Zwei von der Gesellschaft ausgestoßene Figuren, die sich dennoch behaupten, indem sie ihre eigene Welt und ihre eigenen Werkzeuge erschaffen.
Zu den weiblichen Figuren im Film gehört auch die Astronautin Claudie Haignéré, die in den Videos vorkommt, die Youri sich ansieht, um sein Leben im Weltraum zu planen. Diese Videos sind einer von mehreren Einbrüchen von Archivmaterial in Ihrem Film.
Jeremy Trouilh: In all unseren Kurzfilmen haben wir Aufnahmen von Fotos oder Videos der Bewohner der Stadtviertel, die wir gefilmt haben, eingefügt. Wir betrachten Archivmaterial nicht als tote Bilder, sondern als Bewegung, die es uns ermöglicht, die Geschichte im Schneideraum weiterzuentwickeln.
Fanny Liatard: Mit Daniel Darmon, der seit unseren ersten Kurzfilmen unser Cutter ist, möchten wir einen Dialog zwischen Drama und Archiv herstellen. Das Archivmaterial ist wie eine Begegnung, die im Schnitt stattfindet. Es lässt das Publikum innehalten, verschiebt die Erzählung und führt eine weitere Dimension ein. Archivmaterial wirft ein Licht auf das Drama, und das Drama verleiht dem Archivmaterial Tiefe.
Gagarine Cité wurde inzwischen abgerissen. Es existiert nur noch in Ihrem Film. Das Gagarine-Wohnprojekt ist nun Archiv/Drama.
Fanny Liatard: In unseren Köpfen ist der Film auch ein Werkzeug der Erinnerung, das Zeugnis von der architektonischen Vision dieser Zeit und vor allem von den Menschen ablegt, die den Ort zum Leben erweckt haben. Sie sind überall im Film zu sehen – in Bild- und Tonarchiven, auf der Leinwand und hinter der Kamera. Eine Gruppe ehemaliger Bewohnerinnen gründete sogar eine gemeinnützige Organisation, Simmering Beauty, um die Besetzung und das Team während der zweimonatigen Dreharbeiten zu verköstigen.
Jeremy Trouilh: Wir versuchen zu zeigen, dass das Gebäude wichtig ist, aber am Ende sind es die Menschen, die bleiben. Ihre Beziehung zu diesem Ort bleibt bestehen, egal was passiert. Das haben wir versucht einzufangen und zu vermitteln. Wir halten einen Spiegel hoch, der die Schönheit und Komplexität dieser Leben widerspiegelt. Wir glauben an die Kraft von Bildern, die Vorstellungen der Menschen von sich selbst zu beeinflussen.