Filmgespräch

Walter Salles über FÜR IMMER HIER: "Für uns war Rubens Paiva der Vater, den wir gerne gehabt hätten."

Patrick Heidmann

Der brasilianische Regisseur Walter Salles wurde in Deutschland mit seinem Film CENTRAL STATION bekannt, der 1998 den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Es folgten weitere Filme darüber, unterwegs zu sein. THE MOTORCYCLE DIARIES (2004) erzählt von Che Guevaras Motorradtrip durch Südamerika, ON THE ROAD (2012) ist eine Verfilmung des Jack-Kerouac-Romans. Sein jüngster Film FÜR IMMER HIER (Ainda Estou Aqui) wurde soeben mit dem Oscar für "Bester Internationaler Film" ausgezeichnet.

Patrick Heidmann: Mr. Salles, Ihr neuer Film FÜR IMMER HIER erzählt eine wahre Geschichte und basiert auf den gleichnamigen Memoiren von Marcelo Rubens Paiva. Sie kannten die Familie Pavia, die Sie nun auf der Leinwand zeigen, als Teenager persönlich, nicht wahr?

Walter Salles: Das stimmt, mein Bezug zu dieser Geschichte ist ein sehr persönlicher. Meine Eltern hatten nach dem Militärputsch 1964 Brasilien zunächst den Rücken gekehrt, doch fünf Jahre später kehrten wir zurück. Ich war damals 14 Jahre alt, und eine gute Freundin von mir war die beste Freundin von Nalu Paiva, der mittleren Tochter.

Wenn man in FÜR IMMER HIER am Anfang die ganzen Teenager am Strand Volleyball spielen sieht, könnten einer davon also Sie sein?

Absolut, auch wenn ich nie ein besonders guter Volleyballspieler war. Aber ja, ich kannte die Paivas, und auch wenn ich bei ihnen nur gelegentlich zu Gast war, haben mich diese Familie und ihr Haus enorm geprägt. Damals war Rio eine Stadt, die gezeichnet war von den Restriktionen der Militärdiktatur, von Ausgangssperren und Zensur. Doch wenn man das Wohnzimmer der Paivas betrat, bekam man eine Ahnung davon, wie Brasilien hätte sein können. Da war all das greifbar, was in jener hoffnungsvollen Zeit in der Luft gelegen hatte, nachdem sich das Land vom Kolonialismus befreit hatte und bevor der Putsch dann erst einmal alles wieder zunichte machte. Die Stunden, in denen in diesem Haus Musik lief und getanzt wurde, in denen gelacht und über Politik diskutiert wurde – und wir auch als junge Menschen an all dem teilhaben durften – waren ein Quell der Inspiration. Das kannte ich so von zu Hause nicht. Und ich glaube, für uns alle war damals Rubens Paiva der Vater, den wir gerne gehabt hätten.

Sie haben im Film also nicht dieses Familienidyll überhöht, um dann die Tragik umso größer zu machen, die die Paivas ereilt?

Nein, ich musste da nichts überhöhen. Tatsächlich ahnte damals niemand, welche Tragödie sich ereignen würde. Und das nicht, weil alle naiv oder ignorant gewesen wären. Man kann nicht sagen, dass den Paivas und ihrem Freundeskreis mit Rubens Verhaftung mit einem Mal das Paradies abhanden kam, schließlich waren das alles hochpolitische Menschen, die sich intensiv mit den Begebenheiten in ihrem Land auseinandersetzten. Aber sie hielten eben auch die Hoffnung aufrecht, dass die Rückkehr zur Demokratie eigentlich in unmittelbarer Reichweite läge. Ihr Haus war die utopische Version eines besseren Brasiliens, in dem nicht einmal nachts die Tür abgeschlossen wurde. Die bittere Realität drang erst in diese innere Idylle ein, ein als Ruben abgeführt wurde und – anders als etwa der Vater unserer Produzentin Daniela Thomas – auch nicht nach drei Monaten wieder freigelassen wurde.

Die literarische Vorlage für FÜR IMMER HIER stammt, wie erwähnt, vom Sohn der Familie. Warum haben Sie sich trotzdem entschieden, diese Geschichte nicht aus der Sicht Ihrer eigenen Generation zu erzählen, sondern mit Eunice Paiva die Mutter in den Fokus zu nehmen?

In Marcelos Buch begeisterte mich auf Anhieb der Blick auf seine Mutter, auch weil mich wenig so sehr anspricht wie die Geschichte eines Menschen, der sich neu erfindet. Ob nun selbst gewählt oder auf Grund der Umstände, in denen er sich befindet. Frauen, die das hinter sich lassen, was das Schicksal für sie vorgesehen hatte, haben mich schon immer fasziniert. Denken Sie an meinen Film CENTRAL STATION! Für mich gibt es einen direkten Bezug zwischen der damals von Fernanda Montenegro gespielten Dora und nun der von ihrer Tochter Fernanda Torres gespielten Eunice. Beide müssen von einem Moment auf den nächsten einen neuen Weg für sich finden, als das Leben den ursprünglich eingeschlagenen plötzlich versperrt.

Und trotzdem ist der Film doch in gewisser Weise sicherlich auch ein Film über das Ende Ihrer eigenen Kindheit, oder?

Ja, das kann man definitiv so sagen. Der Tod von Ruben stellte eine Zäsur dar für jeden, der im Umfeld dieser Familie existierte. Für uns alle gab es ein davor und ein danach. Gleichzeitig ist FÜR IMMER HIER für mich aber auch ein Film über das Nicht-Aufgeben. Über jemanden, der sich nicht von einem autoritären Regime zum Opfer machen lässt. Über eine Frau, die – beeinflusst von Ereignissen, die jenseits ihres Einflusses lagen – sich selbst gestattet, im Alter von 46 Jahren Anwältin zu werden und noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Dies ist die Geschichte eines fürchterlichen Verlustes, aber auch einer unglaublichen Veränderung und eines außergewöhnlichen Lebens. Und eine Geschichte von der Liebe und der Lebenskraft und wie sie die Zeit überdauern und von einer Generation in die nächste übergehen.

Wie eng hielten Sie sich bei einer wahren Geschichte wie dieser an reale Fakten?

Als Regisseur, der vom Dokumentarfilm kommt, ist es in der Fiktion für mich die größte Freude, nicht sklavisch an einer Vorlage oder dem Drehbuch zu kleben, sondern Raum zu lassen für Neues und für Improvisation. Nichts stresst mich mehr als Drehtage, in denen wir alles exakt so umsetzen, wie es auf dem Papier steht. Als Filmemacher ist es das Wichtigste, die innere Wahrheit einer Geschichte zu finden und den Figuren treu zu bleiben. Wenn das beides gegeben ist, hat man die Freiheit, sich innerhalb dieser „Grenzen“ frei zu bewegen. Marcelo, der ja selbst auch schon Drehbücher geschrieben hat, ist zum Glück auch ein großer Verfechter der künstlerischen Freiheit und ließ mir also freie Hand. Aber an den historischen Fakten und den Charaktereigenschaften sowie der inneren Logik der Figuren habe ich natürlich nicht gerüttelt.

Ohnehin sind die Figuren alle real, richtig?

Ja, und wir haben alle eigens für den Film nochmal interviewt. Aber wie eben schon angedeutet: Noch wichtiger als die Realität ist am Ende für mich das, was die Schauspielerinnen und Schauspieler am Ende beim Dreh daraus machen. Picasso hat mal gesagt, dass er sich für ein Porträt alles ganz genau ansehe und jedes Detail der Person wahrnehme, aber dann beim Malen versucht, alles zu vergessen und sich der Leinwand mit der Neugier eines Fünfjährigen nähert. So ähnlich versuche ich das auch zu halten. Mir ist es wichtig, beim Drehen einer Szene etwas zutage zu bringen, was wir vorher über die Figuren noch nicht wussten. Deswegen sorge ich immer dafür, dass sich meine Schauspielerinnen und Schauspieler nicht eingeengt fühlen von den Dialogen oder dem Arrangement einer Szene. Erst durch die Freiheit beim Drehen werden die Figuren so lebendig, dass – wie nun bei FÜR IMMER HIER – danach Leute zu mir kommen und sagen, alles habe so echt gewirkt, dass man vergessen konnte, einen Spielfilm zu sehen.

Ihre fantastische Hauptdarstellerin Fernanda Torres haben Sie bereits kurz erwähnt. War sie von Beginn an Ihre erste Wahl?

Zumindest hatte ich von Anfang an den Traum, dass sie diese Rolle spielen würde. In Brasilien kennt man Fernanda vor allem als Komödiantin, denn in den vergangenen 15 bis 20 Jahren hat sie vor allem in Komödien und humorvollen Geschichten mitgespielt. Ich wusste allerdings, dass ihre darstellerische Bandbreite sehr viel größer ist, denn das hatte sie schon in meinem allerersten Film FREMDES LAND vor 30 Jahren bewiesen. Ich wollte sie unbedingt als Eunice Paiva sehen. Außerdem hoffte ich natürlich darauf, 27 Jahre nach CENTRAL STATION auf diesem Weg auch wieder mit Fernanda Montenegro arbeiten zu können. Ihr Auftritt als Eunice im hohen Alter nun in FÜR IMMER HIER ist natürlich klein, aber doch enorm entscheidend. Und diese Szene am Schluss des Films, über die ich an dieser Stelle gar nicht zu viele Worte verlieren will, hat sich im übrigen tatsächlich genau so in Wirklichkeit ereignet, wie mir Marcelo und seine Geschwister versichern. Es ist wirklich etwas sehr Besonderes, mit diesem Mutter-Tochter-Gespann, das für meine Karriere eine so große Rolle gespielt hat, nun bei ein und demselben Film noch einmal zusammengearbeitet zu haben.

Patrick Heidmann

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