Filmgespräch

Payal Kapadia über ALL WE IMAGINE AS LIGHT: „Sehnsucht ist ein faszinierendes Gefühl.“

Payal Kapadia wurde 1986 als Tochter der Videokünstlerin Nalini Malani und des Psychoanalytikers Shailesh Kapadia in Mumbai geboren. Sie studierte Film am Film and Television Institute of India und wurde für ihren ersten Langfilm, A NIGHT OF KNOWING NOTHING unter anderem mit dem Dokumentarfilmpreis des Cannes Filmfestivals 2021 ausgezeichnet. Auch in ihrem jüngsten Film ALL WE IMAGINE AS LIGHT, der 2024 im Wettbewerb zu sehen war, spielen dokumentarische Elemente eine Rolle.

Pamela Jahn: Frau Kapadia, Sie wurden 1986 in Mumbai geboren. Wie blicken Sie persönlich aus heutiger Sicht auf die Stadt?

Payal Kapadia: Obwohl meine Familie aus Mumbai stammt, habe ich mich dort nie zuhause gefühlt, weil ich nicht dort aufgewachsen bin. Ich besuchte zunächst ein Internat in Andhra Pradesh, später studierte ich am Film and Television Institute of India in Pune. Erst als meine Freunde von der Filmhochschule nach Mumbai zogen, habe ich durch ihre Augen und Erfahrungen miterlebt, wie sich der Alltag dort anfühlt. Und obwohl ich mittlerweile selbst in Mumbai lebe, sehe mich bis heute als Außenseiterin. Aber das ist ein großes Privileg, weil ich die Stadt aus der Perspektive von jemanden betrachten kann, der nicht an sie gebunden ist, sondern eine abstrakte Verbindung zu diesem Ort pflegt.

Hat sich Ihre Sichtweise geändert, seit Sie den Film gedreht haben?

Das wäre zuviel gesagt, aber ich habe die Stadt mehr ins Herz geschlossen. Ich bin offener für ihre Fehler geworden. Mir ist bewusst, wie schwer es ist, dort zu überleben. Gleichzeitig bietet die Stadt viele Möglichkeiten und Arbeit, insbesondere für Frauen, die auf sich alleine gestellt sind. Im Vergleich zu anderen Teilen des Landes ist Mumbai in der Hinsicht viel liberaler. Das darf man nicht vergessen.

Ähnlich wie bereits in Ihrem Dokumentarfilm A KNIGHT OF KNOWING NOTHING spielt das Thema Trennung auch diesmal eine wesentliche Rolle. Warum?

Sehnsucht ist ein faszinierendes Gefühl. Wenn jemand nicht da ist, projizieren wir die verschiedensten Dinge in diese Abwesenheit hinein, um die Leere zu füllen. Für mich hat das auch viel mit den Schwierigkeiten zu tun, die wir in Indien mit der Liebe haben. Darüber habe ich viel nachgedacht, und ALL WE IMAGINE AS LIGHT ist das Ergebnis dieser Überlegungen. Es ist ein Film über die Freundschaft dreier Frauen, die einander Halt geben, weil ihnen sonst nicht viel bleibt.

Parvati, die Älteste, sagt einmal sinngemäß, dass Menschen, die ins Ausland gehen, zuerst verrückt werden und dann ihre Erinnerung verlieren würden. Woher kommt diese Denkweise?

Ich wollte, dass ihre Figur einer eigenen Logik folgt. Parvati hat ihre ganz persönlichen Ansichten über des Leben. Wenn sie solche Sätze sagt, liegt auch immer etwas Tröstliches darin. Es ist eine Art Schutzmechanismus, um mit der Welt klarzukommen.
Zwischen den drei Frauen, die aus verschiedenen Generationen stammen, herrscht eine bemerkenswerte Solidarität. Ist das auch Ihre persönliche Erfahrung?

Ja, ich bin in einer Familie aufgewachsen, die zu einem Großteil aus Frauen bestand. Ich bin mit diesem tiefen Gefühl der Gemeinschaft um mich herum aufgewachsen und empfinde es bis heute so.

Den Männern in Ihrem Film machen Sie es weniger leicht, sich zurechtzufinden. Ihr Auftreten steht im Widerspruch zu dem Macho-Image, das im indischen Mainstream-Kino popularisiert wird.

Wenn Frauen Filme über Männer machen, sind wir vielleicht etwas milder und nachgiebiger. Ich wollte die Welt nicht in zwei Kategorien einteilen, in denen Männer schlecht und Frauen gut sind. Ich denke, wir bewegen uns alle irgendwo dazwischen, und manchmal trifft das Patriarchat beide Seiten gleichermaßen hart. Der entscheidende Punkt für mich ist, dass die Männer, die im Film all die Probleme verursachen, eigentlich abwesend sind. Auch wenn sie nicht physisch präsent sind, üben sie noch immer eine gewisse Macht auf ihre Frauen aus.

Es gibt jedoch auch Ausnahmen wie Anus Freund Shiaz oder Prabhas Verehrer, Dr. Manoj, der alles daransetzt, die Liebe und Aufmerksamkeit der Krankenschwester zu gewinnen, obwohl er weiß, dass sie verheiratet ist.

Die Figur des Arztes steht für die Wahl, die Prabha hat, aber die sie nicht trifft. Sie weist ihn ab. Obwohl sie sich ihrem Mann gegenüber völlig entfremdet hat, fühlt sie sich nach wie vor an die Ehe gebunden. Sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden und versucht nicht einmal, aus ihrer unglücklichen Situation auszubrechen. Anus Beziehung zu Shiaz dagegen ist zwar nicht legitim, aber sie ist noch jung und kämpft für die Liebe, die sie empfindet. Erst im Laufe des Films spürt Prabha langsam, dass sie sich auch mit ihren Gefühlen auseinandersetzen muss.

Welcher der drei Frauen steht Ihnen emotional am nächsten?

Ich schwanke ständig zwischen Anu und Prabha. In gewisser Weise war das der Grund, warum ich diesen Film überhaupt machen wollte. Es hat mich sehr beschäftigt, wie ich mich in der Vergangenheit gegenüber jüngeren Frauen verhalten habe, oder wie ältere Frauen auf mich reagiert haben. Manchmal war ich darüber verärgert, ohne zu hinterfragen, warum sie sich so verhielten, wie sie es taten.

Kani Kusruti, die im Film die Rolle von Prabha spielt, ist die Tochter von Sozialaktivisten und selbst politisch engagiert. Wie hat sie ihre Figur geformt, die im starken Kontrast zu ihrer eigenen Persönlichkeit zu stehen scheint?

Ursprünglich wollte ich sie für die Rolle des jüngeren Mädchens besetzen, aber das war vor sechs oder sieben Jahren. Mit der Zeit wurden wir beide älter, und als es endlich so weit war, dass wir den Film drehen konnten, stimmte sie schließlich zu, stattdessen Prabha zu spielen. Aber sie sagte immer: „Ich komme mit solchen Frauen nicht klar, sie nerven mich. Ich möchte sie einfach nur schütteln, bis sie endlich aufwachen.“ Letztlich hat uns die Arbeit an dem Film beide offener dafür gemacht, Prabhas Verhalten zu verstehen und die Entscheidungen, die sie trifft, nachzuvollziehen.

Wie kann es jungen Frauen wie Anu in der heutigen indischen Gesellschaft gelingen, aus den kulturellen Traditionen auszubrechen, in die sie hineingeboren wurden?

Auf diese Frage gibt es keine einheitliche Antwort, es existieren viele verschiedene Indiens, jeder Teil des Landes ist von speziellen kulturellen Besonderheiten geprägt. Während es etwa in Kerala für Frauen längst normal ist, einen Beruf zu erlernen und auszuüben, sieht es dagegen in den nördlichen Provinzen noch ganz anders aus. In jeder Region herrschen andere Probleme und damit meine ich nicht nur die Unterscheide zwischen Stadt und Land, sondern ebenso zwischen Zentral-Indien und den Küstengebieten sowie Nord und Süd.

Welche Entwicklungen sehen Sie mit Sorge und welche stimmen Sie optimistisch?

Auch das lässt sich nicht verallgemeinern, aber ich will ihnen ein Beispiel nennen: Nach der mutmaßlichen Vergewaltigung und dem Mord an einer jungen Ärztin am R G Kar Medical College und Krankenhaus in Kalkutta im August dieses Jahres kam es in der Stadt in den darauffolgenden Tagen zu anhaltenden Protestmärschen. Zur gleichen Zeit legte der Hema-Ausschuss in Kerala, der 2017 gegründet wurde, nachdem eine Schauspielerin vergewaltigt worden war, klare Sanktionen zur Unterstützung eines Strukturwandels zugunsten von berufstätigen Frauen in der Filmindustrie vor. Was ich damit sagen will, ist, dass es immer mehrere Brandherde, aber gleichzeitig auch durchaus positive Entwicklungen in die richtige Richtung gibt.

Die erste Hälfte des Films, die in Mumbai spielt, konzentriert sich auf das Nachtleben in der Stadt. Was ist nachts anders?

Um in einer Stadt wie Mumbai zu überleben, muss man viel arbeiten. Freizeit gibt es kaum. Auch Anu und Shiaz können sich nur abends sehen und den Zauber der Stadt genießen. Die Nächte gehören ihnen, im Schutz der Dunkelheit können sie frei sein.

Der Film leuchtet förmlich auf, sobald sich die Geschichte aufs Land verlagert. Wann haben Sie für sich entschieden, den Handlungsort zu wechseln?

Das war von vornherein so geplant. Es ging mir darum, zwei verschiedene Zeitebenen zu repräsentieren. In Mumbai wird das Leben der Frauen sehr stark vom Alltag im Krankenhaus bestimmt, während sich ihre Reise nach Ratnagiri eher wie ein Zwangsurlaub anfühlt. Plötzlich scheint alles um sie herum still zu stehen. Es veranlasst die Frauen, anders über ihr Leben nachzudenken.

Warum Ratnagiri?

Für mich ist ein großer Teil der Identität Mumbais auf die Menschen aus Ratnagiri zurückzuführen, denn es ist eine Region, die eng mit der Stadt verbunden ist. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kamen viele Menschen von dort aus in die Metropole, um in den Baumwollspinnereien zu arbeiten, die bis in die 1980er Jahre den größten Industriezweig darstellten. Doch mit der Globalisierung verlor die Branche an Bedeutung, die Arbeitslosigkeit war unglaublich hoch. Es war eine verzweifelte Zeit. Ich wollte diesen historischen Aspekt würdigen. Bis heute gibt es eine direkte Zugverbindung vom Zentrum Ratnagiris ins Zentrum von Mumbai.

Sie haben erwähnt, dass Sie am Film and Television Institute of India studiert haben. Wurden Sie dort gleichermaßen auf die Besonderheiten in der heimischen Mainstream-Filmindustrie vorbereitet als auch auf die unabhängige Filmarbeit?

Nein. Es hängt alles von den Möglichkeiten ab, die sich einem bieten. Viele meiner Klassenkameraden arbeiten im Mainstream. Ich hatte einfach das Glück, zufällig auf Produzenten aus Frankreich zu stoßen, die sich für meine Filme interessierten und für diese Art von „Hybridkino“ zwischen Fiktion und Dokumentation, das ich mit meinen Arbeiten verfolge.

Wo stehen Sie Ihrem eigenen Empfinden nach heute als junge Filmemacherin in Ihrer Heimat?

Es verschiebt sich gerade sehr viel in der indischen Filmindustrie, und ich würde gerne glauben, dass ich Teil dieser Bewegung bin. Selbst Leute, die mit sehr kleinen unabhängigen Filmen angefangen haben, arbeiten mittlerweile an Produktionen im Mainstream-Bereich, ohne ihre politischen Standpunkte aufzugeben. Das gibt mir Hoffnung. Daneben bewundere ich Filmemacherinnen wie Rima Das aus Assam, die seit vielen Jahren kontinuierlich und konsequent ihre eigenen Werke produziert und damit viele Menschen in ihrem Bundesstaat und darüber hinaus erreicht. Wichtig scheint mir, dass das indische Publikum insgesamt heutzutage offener ist. Aber auch hier gilt: Es gibt nie nur ein Publikum. Die Vielfalt an Zuschauern in unserem Land ist außergewöhnlich und birgt großes Potential.

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