Pamela Jahn: Frau Kapadia, Sie wurden 1986 in Mumbai geboren. Wie blicken Sie persönlich aus heutiger Sicht auf die Stadt?
Payal Kapadia: Obwohl meine Familie aus Mumbai stammt, habe ich mich dort nie zuhause gefühlt, weil ich nicht dort aufgewachsen bin. Ich besuchte zunächst ein Internat in Andhra Pradesh, später studierte ich am Film and Television Institute of India in Pune. Erst als meine Freunde von der Filmhochschule nach Mumbai zogen, habe ich durch ihre Augen und Erfahrungen miterlebt, wie sich der Alltag dort anfühlt. Und obwohl ich mittlerweile selbst in Mumbai lebe, sehe mich bis heute als Außenseiterin. Aber das ist ein großes Privileg, weil ich die Stadt aus der Perspektive von jemanden betrachten kann, der nicht an sie gebunden ist, sondern eine abstrakte Verbindung zu diesem Ort pflegt.
Hat sich Ihre Sichtweise geändert, seit Sie den Film gedreht haben?
Das wäre zuviel gesagt, aber ich habe die Stadt mehr ins Herz geschlossen. Ich bin offener für ihre Fehler geworden. Mir ist bewusst, wie schwer es ist, dort zu überleben. Gleichzeitig bietet die Stadt viele Möglichkeiten und Arbeit, insbesondere für Frauen, die auf sich alleine gestellt sind. Im Vergleich zu anderen Teilen des Landes ist Mumbai in der Hinsicht viel liberaler. Das darf man nicht vergessen.
Ähnlich wie bereits in Ihrem Dokumentarfilm A KNIGHT OF KNOWING NOTHING spielt das Thema Trennung auch diesmal eine wesentliche Rolle. Warum?
Sehnsucht ist ein faszinierendes Gefühl. Wenn jemand nicht da ist, projizieren wir die verschiedensten Dinge in diese Abwesenheit hinein, um die Leere zu füllen. Für mich hat das auch viel mit den Schwierigkeiten zu tun, die wir in Indien mit der Liebe haben. Darüber habe ich viel nachgedacht, und ALL WE IMAGINE AS LIGHT ist das Ergebnis dieser Überlegungen. Es ist ein Film über die Freundschaft dreier Frauen, die einander Halt geben, weil ihnen sonst nicht viel bleibt.
Parvati, die Älteste, sagt einmal sinngemäß, dass Menschen, die ins Ausland gehen, zuerst verrückt werden und dann ihre Erinnerung verlieren würden. Woher kommt diese Denkweise?
Ich wollte, dass ihre Figur einer eigenen Logik folgt. Parvati hat ihre ganz persönlichen Ansichten über des Leben. Wenn sie solche Sätze sagt, liegt auch immer etwas Tröstliches darin. Es ist eine Art Schutzmechanismus, um mit der Welt klarzukommen.
Zwischen den drei Frauen, die aus verschiedenen Generationen stammen, herrscht eine bemerkenswerte Solidarität. Ist das auch Ihre persönliche Erfahrung?
Ja, ich bin in einer Familie aufgewachsen, die zu einem Großteil aus Frauen bestand. Ich bin mit diesem tiefen Gefühl der Gemeinschaft um mich herum aufgewachsen und empfinde es bis heute so.
Den Männern in Ihrem Film machen Sie es weniger leicht, sich zurechtzufinden. Ihr Auftreten steht im Widerspruch zu dem Macho-Image, das im indischen Mainstream-Kino popularisiert wird.
Wenn Frauen Filme über Männer machen, sind wir vielleicht etwas milder und nachgiebiger. Ich wollte die Welt nicht in zwei Kategorien einteilen, in denen Männer schlecht und Frauen gut sind. Ich denke, wir bewegen uns alle irgendwo dazwischen, und manchmal trifft das Patriarchat beide Seiten gleichermaßen hart. Der entscheidende Punkt für mich ist, dass die Männer, die im Film all die Probleme verursachen, eigentlich abwesend sind. Auch wenn sie nicht physisch präsent sind, üben sie noch immer eine gewisse Macht auf ihre Frauen aus.
Es gibt jedoch auch Ausnahmen wie Anus Freund Shiaz oder Prabhas Verehrer, Dr. Manoj, der alles daransetzt, die Liebe und Aufmerksamkeit der Krankenschwester zu gewinnen, obwohl er weiß, dass sie verheiratet ist.
Die Figur des Arztes steht für die Wahl, die Prabha hat, aber die sie nicht trifft. Sie weist ihn ab. Obwohl sie sich ihrem Mann gegenüber völlig entfremdet hat, fühlt sie sich nach wie vor an die Ehe gebunden. Sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden und versucht nicht einmal, aus ihrer unglücklichen Situation auszubrechen. Anus Beziehung zu Shiaz dagegen ist zwar nicht legitim, aber sie ist noch jung und kämpft für die Liebe, die sie empfindet. Erst im Laufe des Films spürt Prabha langsam, dass sie sich auch mit ihren Gefühlen auseinandersetzen muss.
Welcher der drei Frauen steht Ihnen emotional am nächsten?
Ich schwanke ständig zwischen Anu und Prabha. In gewisser Weise war das der Grund, warum ich diesen Film überhaupt machen wollte. Es hat mich sehr beschäftigt, wie ich mich in der Vergangenheit gegenüber jüngeren Frauen verhalten habe, oder wie ältere Frauen auf mich reagiert haben. Manchmal war ich darüber verärgert, ohne zu hinterfragen, warum sie sich so verhielten, wie sie es taten.