Dazu kommt, dass Sie erneut nicht in Ihrer Muttersprache drehen.
Ja, ich drehe viel in anderen Sprachen, sei es auf Englisch, Spanisch oder Tamil, wie in DHEEPAN. Der Grund dafür ist, dass ich nicht nur ein Opern-Freund, sondern auch ein Literatur-Liebhaber bin. Und wenn ich ein Buch auf Französisch lese, bin ich dabei immer sehr aufmerksam, was einzelne Wörter, Formulierungen oder den Ton angeht, weil ich alles verstehe. Aber wenn ich einen Roman lese oder einen Film anschaue, der nicht in meiner eigenen Sprache ist, ändert sich meine Perspektive. Ich achte viel mehr auf die Körperhaltung, die Bewegungen der Schauspieler, ihren Gesichtsausdruck. Und darauf kommt es meiner Meinung nach beim Filmemachen viel mehr an als auf die Tatsache, ob ich wirklich jedes einzelne Wort verstehe oder nicht.
Worin liegt für Sie der Reiz, immer wieder neue Genres auszuprobieren?
Das ist schwer zu sagen. Ich gehöre nicht zu den Regisseuren, die morgens aufstehen und sich vornehmen: Okay, ich werde mich jetzt mal mit diesem oder jenem Genre befassen. Für mich ergeben sich Filme auch nicht aus bestimmten Themen heraus. Es ist immer zuerst eine Reflexion, eine Meditation, anders kann ich es nicht beschreiben. Ein Film entsteht für mich aus einer Form heraus. Die Motive, die Geschichte, der Stil - all das kommt später dazu.
Gab es im Vorfeld Abwägungen bei der Besetzung der Titelrolle, die von einer trans Schauspielerin gespielt wird?
Ich hatte keine Alternative. Die Frage stellte sich also gar nicht. Ich konnte Manitas nicht von einem Mann und Emilia von einer Frau spielen lassen. Es musste eine transsexuelle Schauspielerin sein. Es war sehr wichtig, dass die Geschichte einer Transgender-Person auch glaubhaft im Transgenre widergespiegelt wird. All die anderen Genres, die der Film streift, ob Seifenoper, Drogenthriller oder bürgerliche Komödie, wenn sie so wollen, werden durch die Verwandlung von Manitas bestimmt und gesteuert.
Interessant ist auch die Besetzung der Nebenrollen mit den US-Stars Selena Gomez und Zoe Saldaña. Wie kam es dazu?
Ich kannte beide nicht. Zoe wurde mir von einem Agenten aus Los Angeles empfohlen, mehr als einmal. Ihre Besetzung erlaubte es mir, Rita eine Eigenschaft hinzuzufügen, die ich vorher nicht in Betracht gezogen hatte: Sie ist eine Morena, wie auf den Philippinen Frauen mit dunklem Haar und gebräunter Haut bezeichnet werden, was in Mexiko ein sehr spezifisches soziales Merkmal ist. Dazu kommt, dass sie eine großartige Schauspielerin ist, die singen und tanzen kann. Bei Selena war es ähnlich. Auch sie kannte ich nur aus SPRING BREAKERS und dem Woody-Allen-Film A RAINY DAY IN NEW YORK. Als wir uns trafen, war ich sofort von ihr fasziniert. Das einzige Problem war, dass sie trotz ihres Namens kein einziges Wort Spanisch spricht. Trotzdem sagte ich ihr nach zehn Minuten zu, dass sie engagiert sei. Sie dachte, ich sei verrückt.
Man sagt, der Mensch könne seinen Körper ändern, aber die Seele bleibt. Würden Sie dem zustimmen?
Ich denke schon. Auch Emilia glaubt, sie könne die Gewalt hinter sich lassen, doch dann holt sie ihre Vergangenheit irgendwann wieder ein. Sie wollte ihrem Schicksal entkommen, aber so einfach ist das nicht. Das Leben ist nun mal keine Komödie.
Die Zahl der Menschen, die in Südamerika aufgrund von Drogenkriminalität vermisst werden, steigt kontinuierlich. Ein ungewöhnlicher Stoff für ein Musical, finden Sie nicht?
Es ist ein sehr heikles Thema, keine Frage. Aber ich glaube, wenn man eine tragische Geschichte erzählt, ist Musik - speziell die Oper - genau die richtige Form, das richtige Medium. Ich bin viel in Mexiko herumgereist, als wir nach passenden Drehorten gesucht haben. Und dort kommt man um die Realität der Vermissten nicht herum. Die Tragödie ist allgegenwärtig. Ich habe das alles irgendwie eingeatmet und in mich aufgenommen. Zuhause in Paris war das Gefühl immer noch stark, aber der Abstand war wichtig. Nur so konnte ich mich damit auseinandersetzen, auch musikalisch. Vor Ort wäre ich wahrscheinlich daran gescheitert.
Inwiefern?
Die Musik hat es mir ermöglicht, das epische Gefühl der Erzählung mit den dramatischen Elementen der Realität zu vermischen. Die Lieder sind vollständig in die Geschichte integriert, sie sind Teil des Spannungsbogens. Ein bisschen wie in Jacques Demys LES PARAPLUIES DE CHERBOURG, einem Film über den Algerienkrieg. Die Songs sind ein fester Bestandteil der Handlung. Sie sind nicht nur als Ablenkungsmomente gedacht.
WEST SIDE STORY wäre ein anderes Beispiel.
Mein Problem mit WEST SIDE STORY in all seinen Versionen ist, dass ich den Film für einen groben Lapsus halte, weil es nicht eine einzige schwarze Figur im Ensemble gibt. Immerhin geht es um die 1960er Jahre und die Bürgerrechtsbewegung in den USA.